Mit Haut und Haaren
gesehen? Seinen hochwissenschaftlichen Penis schon mal aus der Nähe studiert?«
Sie sagt nichts mehr. Sie spürt, wie er kommt.
Er geht von ihr herunter, zieht sich die Unterhose hoch, nimmt die Bürste
vom Tisch und putzt sich im Bad weiter die Zähne.
Kurz bleibt sie auf dem Sofa liegen. Dann steht sie auf. Sie sucht ihren
Slip, er liegt neben dem Bücherregal. Sie zieht ihn an, bringt ihr Nachthemd in
Ordnung und geht in die Küche, wo sie das Gefrierfach aufmacht.
[400] Eigentlich wollte sie das Kokoseis für morgen aufheben, aber eine
Kugel kann sie essen. Für die Kinder bleibt schon genug übrig.
Sie tut das Eis in ein Schälchen, nimmt einen Löffel
und setzt sich an den Bartisch.
Ihr Mann kommt aus dem Bad. Er legt ihr die Hand auf die Schulter. »Hab
ich dir weh getan?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Schau mal, was du gemacht hast: Ich blute.« Er zeigt auf seinen Oberarm.
Auf seinem Arm klebt ein Pflaster.
»Ich leg mich ins Bett, kommst du auch?«, fragt er.
Sie nickt, isst noch ein paar Löffel Eis,
dann nimmt sie ihr Handy und schickt Roland eine SMS .
»Ich hoffe, es hat euch gefallen«, schreibt
sie. »Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll, aber als ihr weg wart,
hat mein Mann mich vergewaltigt.«
Sie legt das Handy auf die Bar und isst ihr Eis zu Ende. Dann geht sie
zum Gefrierfach und nimmt noch eine Kugel.
»Sollen wir die Polizei rufen? X«, schreibt Roland zurück.
Sie wartet einen Moment, ob vielleicht noch ein Anruf von Roland kommt,
dann antwortet sie. »Nein, keine Polizei, bitte! Vielleicht hätte ich dir das gar
nicht schreiben sollen; lass gut sein.«
»Entschuldige, dass ich nicht angemessen reagiere«, schreibt Roland.
»Muss ich mir Sorgen machen?«
In Ruhe isst sie ihre zweite Eiskugel zu Ende, dann schreibt sie zurück:
»Mach dich nicht verrückt. Grüß deine Familie von mir. Schlaf schön.«
[401] Aus dem Gefrierfach holt sie den Rest Eis und vertilgt ihn. Kriegen
die Kinder morgen eben was anderes.
Sie schickt eine SMS an Durano. »Deine
Mail habe ich bekommen. Lass uns zusammen lunchen. Lea.«
Noch eine Viertelstunde wartet sie in der Küche, ob eine Antwort oder
irgendeine andere SMS für sie kommt, doch es passiert
nichts. Dann geht sie zu Bett.
13
In ihrem kleinen, stickigen Zimmer am Central Park West ist
Sylvie schon eingeschlafen, als plötzlich ihr Handy klingelt. Einen Moment denkt
sie, es wäre Lysander, doch es ist Roland. »Hallo«, flüstert
sie.
Sie wirft einen prüfenden Blick auf Jonathan,
der neben ihr liegt, doch der schläft tief und fest.
»Entschuldigung, dass ich so spät noch anrufe«, sagt Roland, »aber ich
hab gerade eine SMS von Lea bekommen. Wie es aussieht,
hat ihr Mann sie vergewaltigt.«
»Wie meinst du das?« Sylvie sitzt jetzt kerzengerade im Bett. »Wann?«
»Jetzt, gerade als wir weg waren.«
»Mein Gott!«
»Denkst du, es liegt an uns? Haben wir was falsch gemacht?«
»Nein«, sagt Sylvie, »was sollen wir falsch gemacht haben? Bestimmt nicht.«
[402] »Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Darum rufe ich an. Was sagt
man zu einer Frau, die gerade vergewaltigt worden ist? Per SMS meine ich. Ich wollte ja anrufen, aber …«
»Du musst dich in sie hineinversetzen«, sagt Sylvie, »stell zur Abwechslung
mal Einfühlungsvermögen unter Beweis: Stell dir vor, du wärst gerade von Jason Ranzenhofer
vergewaltigt worden.«
»Mach keine Witze.«
»Ich meine es ernst«, sagt Sylvie. »Ich kann nicht lange sprechen, ich
hab Angst, dass Jonathan wach wird.«
»Aber was soll ich machen?«, will Roland wissen. »Ich fühle mich schuldig.
Ich hatte mir vorgenommen, ihren Mann sympathisch zu finden,
und ab und zu ist mir das auch ganz gut gelungen. Aber wie soll ich ihn sympathisch
finden, wenn er sie vergewaltigt?«
»Ich fand ihn erbärmlich.«
»Vielleicht finden wir erbärmliche Leute ja sympathisch.«
»Er sah mir nicht aus wie ein Vergewaltiger.«
»Nein, überhaupt nicht«, stimmt Roland ihr zu. »Er redete ein bisschen
viel, war ein bisschen verlegen, aber ein Vergewaltiger, nein. Was soll ich machen?«
»Wenn ihr euch das nächste Mal seht, kannst du mit ihr darüber sprechen,
aber jetzt mach besser nichts. Vielleicht hat sie übertrieben, vielleicht war er
auch nur ein bisschen aufdringlich. Vielleicht will sie sich bei dir interessant
machen. Roland, Lea ist eine erwachsene Frau, sie ist nicht dumm, sie weiß, was
sie tut. Sie hat studiert, arbeitet an einem Buch über Höß, sie ist schon
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