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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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übrigens nicht mal erzählt,
dass Hillary dir lieber gewesen wäre?« Gegen den Prosecco jedoch hat er nichts einzuwenden.
Das Wahlergebnis wird erst am späten Abend verkündet werden, doch bis dahin möchte
Lea nicht warten. Außerdem geht es ihr nicht um die Wahl, sie hat einfach Lust,
ein wenig zu feiern. Ein paar Tage lang hat sie mit Grippe im Bett gelegen.
    Sie sitzen in einem Restaurant am West Broadway. Lea [407]  hatte Roland
gefragt, ob sie sich downtown verabreden könnten, das
spare ihr Fahrzeit. ›The Odeon‹ heißt das Lokal. Eigentlich hätte sie lieber in
der Blauen Gans geluncht, sie hatte viel Gutes darüber gehört, doch da hätten sie
nur noch an der Bar essen können, und das wollte sie nicht.
    »Müsstest du nicht in Fairfax sein?«, will sie wissen, nachdem sie angestoßen
haben.
    Sie versucht, so heiter wie möglich zu wirken. Außerhalb seines Fachs
ist die Welt Rolands Meinung nach heiter, und darin möchte sie ihn nicht gern enttäuschen.
    »Die Vorlesungen von heute sind auf morgen verlegt, ich hatte ein langes
Wochenende in New York, und außerdem muss ich heute Abend meine Freundin abholen.
Sie kommt für ein paar Tage.«
    Er schaut Lea einen Moment unsicher an, ob er womöglich ein stillschweigendes
Abkommen gebrochen hat. Was dürfen sie einander erzählen, was nicht? Was verschweigen
sie besser? Was ist tabu?
    Lea beugt sich über die Speisekarte.
    »Hast du dich schon entschieden? Ich glaube,
ich nehm den Salat.«
    »Ich den Lachs«, sagt Roland. »Wie ist das jetzt mit dir und deinem Mann?«
    »Er will noch ein Kind.«
    Roland verschluckt sich an seinem Prosecco. Ihr fällt auf, dass er unrasiert
ist.
    »Du hast mir doch erzählt, er hätte dich vergewaltigt? Sei mir nicht
böse, wenn ich das so sage, aber …«
    »Wie sagst du es denn?«
    »Brutal. Ungeschminkt. Vielleicht hätte ich es etwas [408]  indirekter ausdrücken
sollen, das wäre zartfühlender gewesen, empathischer. Das ist doch Einfühlungsvermögen,
wenn man andere Worte benutzt?«
    »Für mich ist Einfühlungsvermögen was anderes, aber egal. Übrigens schließt
das eine das andere nicht aus: Er hat mich vergewaltigt, weil er gern noch ein Kind
will. Sagt er zumindest. Tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe. Danach
ist es nicht mehr vorgekommen. Keine Vergewaltigung, auch kein Sex.«
    Sie geben ihre Bestellung auf.
    »Können wir nicht das Thema wechseln?«, fragt sie, als der Kellner gegangen
ist. »Ich möchte jetzt eigentlich nicht über Vergewaltigung reden und auch nicht
über Jason. Ich wollte dich fragen, ob du mein Buch gegenlesen könntest.«
    »Ich?«
    Er wirkt aufrichtig erstaunt.
    »Ja, du«, sagt sie.
    »Ich bin kein Historiker.« Er nimmt ein Stück dunkles Brot. »Ich bin
Ökonom. Ich betrachte das Ganze aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht.«
    »›Das Ganze‹? – Mein Buch? Das Leben? Dein Kind?« Sie nimmt einen Stapel
Papier aus ihrer Tasche und legt ihn auf den Tisch. »Das erste Kapitel, ich hab
dir einen Ausdruck gemacht. So liest es sich leichter.«
    Er blättert durch die ersten Seiten, während er auf seinem Stück Brot
kaut.
    »Das ist es doch, was uns verbindet«, sagt
sie, »oder nicht?«
    Sie hofft, dass er widerspricht: »Uns verbindet
etwas [409]  anderes«, doch sie erkennt, dass sie die harte Wahrheit ausgesprochen hat.
    Roland nickt geistesabwesend. »Ja, das verbindet uns. Ich werde es lesen,
aber lass mir etwas Zeit.«
    Sie nimmt noch einen Schluck Prosecco. Sie betrachtet die anderen Gäste,
ihr Glas, an dem Lippenstift klebt. Sie denkt an das
dritte Kind.
    »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mit einem anderen Mann ins Bett
ginge – wärst du dann eifersüchtig?«, fragt sie. »Stört’s dich, dass ich verheiratet
bin? Dass mein Mann und ich manchmal noch Sex haben, nicht oft, aber manchmal? Fast nie.«
    Roland reibt sich die Hände. Salbungsvoll wie ein Priester, denkt sie.
In Filmen jedenfalls tun sie das immer, viel Erfahrung mit Priestern hat sie ja
nicht.
    »Ich glaube an das freie Spiel der Kräfte«,
antwortet er. »Menschen gedeihen am besten, wenn sie ihre Freiheit optimal nutzen
dürfen. So ist es zum Beispiel gar nicht so sicher, dass Mindestlöhne immer eine
sinnvolle Maßnahme sind.«
    »Was hat denn der Mindestlohn mit meiner
Frage zu tun?«
    »Meine Eifersucht könnte als Intervention aufgefasst werden, als Regulierungsversuch,
mit langfristig katastrophalen Folgen. Außerdem …«, er beugt sich vor, »hast du
schon eine monogame

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