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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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begonnen. Trotz des schlechten Wetters sitzen Leute
auf der Terrasse. Er geht nach drinnen, Gwendolyne folgt ihm.
    Eine Kellnerin, zweifellos eine Studentin, fragt, ob er reserviert habe,
und obwohl das Restaurant zu drei Vierteln leer ist, vertieft
sie sich, nachdem er verneint hat, lange und ausgiebig in das Buch mit den
Reservierungen.
    Weiter hinten im Restaurant meint er einen Kollegen von der juristischen
Fakultät in größerer Runde sitzen zu sehen. Dessen Name fällt ihm nicht ein. Unbehagen
überkommt ihn.
    Sie bekommen einen Tisch am Fenster.
    Obwohl Oberstein gern ein Glas Wein trinken würde, [509]  bestellt er einen
Apfelsaft. Um das Förmliche vom weniger Förmlichen zu
trennen.
    Gwendolyne fragt die Bedienung: »Haben Sie auch Rosé?«, was diese bejaht.
    Eine Pause entsteht.
    Quälend langsam notiert die Kellnerin die Bestellung.
    Als sie weg ist, fragt Gwendolyne: »Sie sagten, das wäre kein Schuldeingeständnis,
aber warum sitzen Sie dann hier?«
    Er schaut zu dem Tisch weiter hinten, wo der Kollege sitzt, dessen Name
ihm gerade nicht einfällt. Offenbar redet der über ihn,
denn die ganze Runde starrt Oberstein an, als er vorsichtig in ihre Richtung blickt.
    Sofort springt sein Blick zurück auf die Speisekarte. Er versucht, sich
so gut wie möglich hinter ihr zu verstecken, doch ohne Erfolg. Dazu ist die Karte
zu klein.
    »Aus Höflichkeit«, antwortet Oberstein. »Ich habe mich überreden lassen.
Und aus Neugier. Ich war verwirrt von deiner …« Er macht eine Pause, weil er nach
dem richtigen Wort sucht. Ȇberrumpelungstaktik. Wie auch immer, ich glaube, dass
du in meiner E-Mail mehr Verachtung entdeckt hast, als ich hineingelegt habe. Gut,
ein wenig steckt schon drin, aber nicht mehr als üblich. Ich könnte dir E-Mails
an Studenten zeigen, übrigens auch an Kollegen, in denen man die Verachtung viel
deutlicher spürt.«
    Er räuspert sich.
    »Na«, sagt sie, »dann kann man Sie aber leicht
überrumpeln.«
    »Ich versuche, das hier mit Anstand zu einem Abschluss zu bringen.«
    »Sie haben doch nicht etwa Angst vor mir?«
    [510]  Sie fragt es wie im Spaß, doch ihm ist nicht wohl dabei.
    »Gewaltige Angst.«
    Er hat das Gefühl, dass sein Sarkasmus nicht rüberkommt, sein Talent
dafür ihn verlassen hat.
    Noch einmal späht Oberstein zu dem Kollegen am anderen Tisch, zum Glück
starren die Leute dort nicht mehr herüber.
    Während er die Speisekarte studiert, muss er wieder an sein mieses Gehalt
denken, und Scham überkommt ihn. Scham wegen der Arbeit, mit der er sich hier herumschlägt,
statt sich um seine Forschung zu kümmern.
    Als die Kellnerin zurückkommt, bestellt er Thunfisch.
Ohne Vorspeise. »Und du?«, fragt er Gwendolyne. »Was nimmst du?«
    »Ich esse kein Fleisch«, sagt sie.
    »Fisch vielleicht?«
    »Fisch esse ich auch nicht.«
    »Was denn dann?«
    »Alles außer Fisch und Fleisch.«
    Die Kellnerin, deren bloße Anwesenheit ihm von Minute zu Minute mehr
auf die Nerven geht, sagt: »Es gibt auch eine vegetarische Lasagne.«
    »Dann nehme ich die«, sagt Gwendolyne.
    Oberstein trinkt seinen Apfelsaft. In zwei
Stunden ist er zu Hause. Dann kann er wieder in Ruhe arbeiten. Violet wollte heute
Abend nicht kommen, auch wenn sie es sich manchmal in letzter Minute anders überlegt
und auf einmal um Mitternacht vor der Tür steht.
    »Darf ich ein Foto von Ihnen machen?«
    »Wie bitte?«
    [511]  »Ein Foto. Für Facebook. Ich bin da ziemlich aktiv. Ich stell da so
ziemlich alles rein, was ich mache. Wenn Sie auch auf Facebook sind, können wir
Freunde werden.«
    »Ich bin nicht auf Facebook«, sagt Oberstein, »jedenfalls benutze ich
es nicht, ich glaube, ich hab mich mal angemeldet, um etwas über einen Kollegen
herauszufinden.« Obwohl ein Wein ihm jetzt wirklich guttun
würde, bestellt er ein zweites Glas Apfelsaft, und sei
es nur, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
    »Ich darf also? Ein Foto?«
    »Nein«, sagt er.
    Sie schaut ihn enttäuscht an. »Oder schämen Sie sich?«
    Das hier läuft aus dem Ruder. Er muss sich
konzentrieren, darf einen Moment nicht an die Wirtschaftspolitik
von Vichy denken oder an die Spekulationsblasen. Er muss sich zusammennehmen.
    Scham ist Schwäche.
    »Nein«, sagt er, »ich schäme mich nicht, ich finde
es nur unpassend. Aber in Ordnung, die ganze Situation hier ist ein bisschen unpassend,
also los – ein Foto, mehr nicht. Und nicht für Facebook.
Häng dir das Foto an die Wand.«
    Er lacht, obwohl er den Witz selber nicht witzig

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