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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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findet.
    »Ich frage die Kellnerin, ob sie uns schnell fotografiert.« Schon hat sie die junge Frau angesprochen, ist von
ihrem Stuhl aufgesprungen und hat sich neben ihn gestellt. »So«, sagt sie, »und
jetzt: lächeln!«
    Rasch ist das Foto gemacht.
    Oberstein holt ein paar Bücher aus seiner Plastiktüte. »Ich weiß nicht,
ob es dich interessiert«, sagt er, »aber ich [512]  bereite mich auf eine Konferenz
über die Wirtschaftspolitik des Vichy-Regimes vor.«
    Das ist die einzige Art, wie er dieses Essen vor sich rechtfertigen kann:
als Fortsetzung der Lehrtätigkeit mit anderen Mitteln.
    Wenn sein Kollege vorbeikommt und die Bücher hier auf dem Tisch sieht,
wird kein Zweifel mehr daran bestehen, worum es sich handelt: reine Wissensvermittlung.
    17
    Nach dem Essen fragt Sylvie Jonathan: »Gehen wir noch kurz
bei Papa vorbei? Vielleicht ist er zu Hause. Wahrscheinlich arbeitet er, aber ein
Viertelstündchen hat er sicher für uns.«
    Es regnet, aber es ist nicht kalt. Sie zieht Jonathan die Regenjacke
an und gibt ihm den Kinderschirm, den sie ihm zu Koninginnedag für einen Euro einmal
gekauft hat. Er liebt diesen Schirm.
    Für die siebenhundert Meter zwischen ihrer Wohnung und Rolands anderthalb
Zimmern brauchen sie zwanzig Minuten. Dauernd sieht Jonathan Dinge, die er aufheben
und einstecken will. Die Sammlung von Steinen und anderen Fundstücken in seinem
Zimmer wird langsam gigantisch. Sie könnte ein Museum für Krempel eröffnen.
    Antoinette öffnet ihnen. »Ach, ihr seid’s«,
sagt sie, als sie oben vor ihr stehen. »Jonathans Vater ist noch nicht da. [513]  Aber
wollt ihr nicht trotzdem hereinkommen? Bei dem Wetter jagt man doch keinen Hund
vor die Tür!«
    18
    Gwenny sitzt allein an ihrem Tisch im Scarlatti. Die Nudeln
hat sie nur zur Hälfte gegessen. Es war ihr zu viel,
und eigentlich hat es auch nicht geschmeckt. Das ist der Nachteil daran, Vegetarier
zu sein: Ein Essen schmeckt wie das andere.
    Oberstein ist auf der Toilette. Er hat schon bezahlt. Er hat drei Gläser
Apfelsaft getrunken und sie drei Rosé.
    Sie schickt eine SMS an Lieke, eine ihrer
besten Freundinnen. »Ich werde die Wette gewinnen. Willst du den Beweis sehen, oder
glaubst du mir so?«
    Oberstein kommt von der Toilette zurück. Er setzt sich nicht mehr. »Ich
muss zum Bahnhof«, sagt er. »Und du?«
    »Ich auch, aber ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Ich könnte Sie mitnehmen.«
    Er sagt nichts. Er steckt die Bücher, die er ihr gezeigt hat, zurück
in die Plastiktüte.
    Viel Interesse für die Wirtschaftspolitik
von Vichy konnte sie nicht aufbringen, aber sie hat es ehrlich versucht.
    Das jetzt mit dem Mitnehmen war eigentlich überflüssig.
Sie wird die Wette auch so locker gewinnen. Aber einen Mann einfach durch den Regen
laufen zu lassen ist auch wieder nicht schön.
    [514]  »Ja oder nein?«, fragt sie.
    »Erst will ich dein Fahrrad sehen«, antwortet er. »Ich will immer erst
gut informiert sein, bevor ich etwas entscheide.«
    19
    Violet hat Roland angerufen, aber er ist nicht rangegangen.
Wenn er arbeitet, stellt er sein Handy oft aus, bestimmt
sitzt er also zu Hause, über seinen Büchern zu den Spekulationsblasen.
    Sie ist aufs Rad gesprungen und zu Roland gefahren. Im allerletzten Moment
hatte Mirjam abgesagt. Violet hatte eine Mandarine geschält und plötzlich Lust bekommen,
Roland zu sehen.
    Seine Zimmerwirtin öffnet die Tür. »Roland
ist nicht zu Hause«, ruft sie die Treppe hinunter. »Aber
es sind noch mehr Leute da, die ihn sehen wollen.«
    Natürlich Sylvie. Kann sie ihn keinen Tag in Ruhe lassen? Sie ist seine
Ex, aber dauernd schwirrt sie um ihn herum.
    Und obendrein – vollkommen lächerlich: ein Mann in seinem Alter und eine
Zimmerwirtin! Wo er auch wohnt, überall muss es so eine geben, als wäre er süchtig
danach.
    »Komm ruhig hoch«, ruft die Frau.
    Violet geht die Treppe hinauf. Im Wohnzimmer sitzen Jonathan und seine
Mutter. Violet umarmt Sylvie und gibt Jonathan einen Kuss.
    [515]  »Spielst du mit mir?«, fragt der Junge.
    »Musst du nicht ins Bett?«, will Violet wissen.
    »Trinkst du ein Glas Wein mit?«, fragt die Zimmerwirtin. »Ich bin übrigens
Antoinette. Ja, wir warten alle auf Roland. Er hat immer so viel zu tun. Jetzt arbeitet
er an was über Frankreich, wie heißt es, es liegt mir auf der Zunge, er hat es mir
doch erklärt – die Republik von Salò? Hab ich euch schon erzählt, dass er im Kuratorium
des Vroom-&- Dreesmann-Literaturpreises sitzt, des Preises für den besten

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