Mit Haut und Haaren
Roman
des Jahres? Wir hatten immer einen renommierten Wirtschaftswissenschaftler in unserem Kuratorium, aber unser letzter ist plötzlich
gestorben, äußerst tragisch, viel zu jung, in seinem Bad, na, und auf einmal stand
Roland Oberstein hier. Und ich dachte: Manchmal muss man dem Wink der Götter nur
folgen.«
Violet weiß nicht, was sie darauf antworten soll.
Auf dem Tisch steht eine Schale mit getrockneten Mangostückchen, jeweils
zur Hälfte in Schokolade getaucht. »Was machen eigentlich
deine Zähne, Violet?«, bricht Sylvie nach ein paar Sekunden das Schweigen. »Soll
ich sie noch einmal bleichen? Mach mal den Mund auf.«
Soll sie es nur sehen. Violet öffnet den Mund
sperrangelweit.
[516] 20
»Sie quetschen mich ja zu Brei, nicht so fest drücken!«, ruft Gwendolyne.
»Ich hab Angst herunterzufallen, es gibt nichts, woran ich mich festhalten
kann.«
»Wenigstens sind Sie nicht schwer«, ruft sie.
»Aber Sie dürfen mich nicht so kneifen.«
Schon ein paarmal sind sie durch Pfützen gefahren. Seine Hosenbeine müssen
völlig verdreckt sein. Er darf Antoinettes Waschmaschine benutzen. Sie hat ihm sogar
angeboten, ab und zu einen Arm voll für ihn zu waschen, doch er findet die Vorstellung unangenehm, dass sie in seiner Unterwäsche
herumwühlt.
»Warum hast du eigentlich Jura gewählt?«, fragt er an einer Ampel.
»Zuerst wollte ich was anderes studieren, Vergleichende Literaturwissenschaft. Aber das fanden meine Eltern nicht gut. Sie meinten, das
hat keine Zukunft.«
»Verständlich«, antwortet Oberstein. »Literatur-, Theater-, Kommunikationswissenschaft, das sind doch mehr bizarre Freizeitbeschäftigungen. So was wie Wildcampen. Und wenn man es lange genug
macht, darf man sich Universitätsdozent nennen.«
Sie muss nicht lachen.
Am Bahnhof stellt sie ihr Fahrrad in den Unterstand.
»Wegen Stefan Zweig«, sagt sie, während sie ihr Rad abschließt. »Darum
Literaturwissenschaft. Sagt Ihnen der Name etwas? Ansonsten
sind meine Eltern sehr tolerant.«
[517] »Stefan Zweig? Wenig.«
»Ein Romanautor.«
Sie schaut ihn an, als müsse jetzt endlich der Groschen bei ihm fallen.
»Ich lese kaum Literatur. Unter uns gesagt, ich finde
das mehr was für gelangweilte Hausfrauen. Dan Brown hab ich gelesen, weil das so
viele Leute gekauft haben. Ich dachte: Mal sehen, ob
die Masse Geschmack hat. Doch dem war nicht so.«
In der Hosentasche knistert die Restaurantrechnung. Beim Bezahlen wurde
ihm wieder schmerzlich bewusst, wie wenig der Universität Leiden seine Dienste wert
sind. Das war der Deal: Er war bereit, unter Tarif zu arbeiten, um im Gegenzug eine
Schuld abzubüßen: das Gefühl, seinen Sohn zu vernachlässigen.
Gwendolyne hält den Fahrradschlüssel in der Hand.
»In der Schule habe ich meine Schwerpunktarbeit über Stefan Zweig gemacht.«
Sie scheint zu glauben, dass diese Information ihm alles erklärt. Doch
»Schwerpunktarbeit«? Das Wort ist ihm neu. Es muss nach seiner Schulzeit entstanden
sein. Er kennt »Projektarbeit«, aber dieses Wort? Was wohl der Unterschied zwischen
einer Projektarbeit und einer Schwerpunktarbeit ist? Er könnte sie fragen, doch
eigentlich interessiert es ihn nicht.
»Was hast du von diesem Zweig gelernt? Was weißt du, was du vor seinem
Buch noch nicht wusstest?«
Sie gehen in den Bahnhof.
»Ich kann Ihnen das Buch ja mal leihen, dann können Sie selber urteilen«,
sagt sie.
[518] Er nickt. »Wohin musst du eigentlich?«, fragt er.
»Richtung Rotterdam«, antwortet sie.
»Wohnst du da?«
»Nein, ich wohne in Naaldwijk.«
»Hast du dort ein Zimmer?«
»Ich wohne noch bei meinen Eltern.«
»Wie gemütlich.«
»Und wo ist Ihre Wohnung?«
»In Amsterdam.«
Eigentlich hat er nur ein Zimmer, doch das
sagt er nicht. Kurz denkt er an seine eigene Mutter. Er geht mit Gwendolyne auf
den Bahnsteig.
»Müssen Sie nicht zum anderen Zug?«, fragt sie. »Sie wollen doch nach
Amsterdam?«
Er antwortet nicht. Er schaut auf die Schienen. »Gibt’s in Naaldwijk
was zu erleben?«, fragt er.
»Wir haben eine Disco, einen Supermarkt und ein Einkaufszentrum, das
ist eigentlich ganz hübsch. ›De Tuinen‹ heißt es.«
Was Andrew Weinert jetzt wohl macht? Ob er wieder zu Saks fährt, um Anzüge
zu kaufen? Und Weinerts Sohn, ob der immer noch bei Taco Bell arbeitet? »Shoppen«,
sagt Oberstein, »ist eine heilige Handlung. Es ist Beten mit dem Portemonnaie. In
der Kirche zu beten ist nicht gut für die Wirtschaft,
beten mit dem Portemonnaie
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