Mit Haut und Haaren
essen.
Der süßsaure Geschmack ist nicht schlecht, doch die Textur des Fleisches
missfällt ihm.
»Und ihr seid monogam?«, fragt Hegel weiter.
Normalerweise werden solche Themen vermieden, doch wenn Hegel gute Laune
hat, spricht er beim Chinesen auch gern mal über Privates. Bevor Oberstein antworten
kann, den Mund noch voll Schweineohr, reißt der Russe das Gespräch an sich: »Es
wäre mal interessant, zu untersuchen, was Fremdgehen zur Volkswirtschaft beiträgt. Denkt nur an all die Geschenke, die für Geliebte
gekauft werden.«
»Und die vermieteten Hotelzimmer«, fügt Hegel hinzu, während er sich
über eine Portion gekochtes Gemüse in Austernsoße hermacht.
[248] Jetzt kann Oberstein nicht zurückstehen. »Es wäre auch interessant,
einmal herauszufinden, wer produktiver ist, der Monogamist
oder der, der eine Affäre hat. Wenn der mit der Affäre sich als produktiver herausstellt, würde viel dafür sprechen,
dass Ehebruch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Volkswirtschaft liefert.«
Bergstrom schüttelt den Kopf. »Dass die massive Zerrüttung von Familien
der Wirtschaft zuträglich sein soll, halte ich für eine
bedenkliche These.«
Der Russe unterbricht ihn. »Zerrüttung?«, ruft er.
»Wer spricht von Zerrüttung? In Frankreich betrachtet man die Affäre als die unentbehrliche Stütze jeden Familienlebens: die
Möglichkeit, Dampf abzulassen. Wer es in die Ehe geschafft hat,
signalisiert mit dem Trauring im Grunde, dass er vertrauenswürdig ist, nicht völlig
debil und verwirrt, und dass seine sexuellen Leistungen auf einem zumindest akzeptablen
Niveau liegen, aber vor allem, dass er verfügbar ist. Okay, vielleicht nicht mehr
für Familie und Reproduktion, aber fürs reine Vergnügen. Der Trauring sagt: Bei
mir könnt ihr Dampf ablassen.«
Es wird gelacht. Der Russe ist nicht verheiratet, und soweit Oberstein
weiß, hat er auch keine Freundin.
»Moment«, sagt Hegel und nimmt abermals von den Garnelen, »dann müssten
wir eigentlich Mandeville recht geben, der, wie ihr wisst, den Bordellbesuch fördern
wollte, weil die Leute dann kürzere Mittagspausen bräuchten, schließlich sei der
Bordellbesuch weniger zeitraubend als das Finden einer Geliebten.« Nowak, ein älterer,
eher stiller Kollege, der eigentlich mehr Mathematiker ist als Wirtschaftswissenschaftler, bemerkt daraufhin:
»Das kann sich Jahre [249] hinziehen. Die meisten Männer finden
leichter irgendwo eine Stelle als eine Geliebte, selbst jetzt in der Krise.«
Wieder wird gelacht.
Nowak zupft sich an seinem Bart, dann trinkt
er mit einem Strohhalm seinen Eistee aus.
Solche Gespräche führte Oberstein in Rotterdam selten, doch schon am
ersten Tag in Fairfax hatte Weinert zu ihm gesagt: »Wir hier am Center for the Study
of Public Choice sind keine Durchschnittsökonomen, das überlassen wir anderen Kollegen.«
Hegel verlangt die Rechnung. Jeder gibt zwanzig Dollar.
Unsicherheit legt sich in der Regel im Laufe der Jahre, sein eigenes
Unbehagen dagegen nimmt immer mehr zu, das erstaunt Oberstein. Manchmal betritt
er den Hörsaal und fühlt sich neuerdings wie ein Betrüger. Früher glaubte er immer,
dass nur die dummen Studenten zwischen ihm und seiner Wissenschaft stünden. Jetzt zweifelt er manchmal daran, ob er überhaupt
der richtige Mann ist, jungen Menschen etwas beizubringen.
Gegen dieses Unbehagen ist kein Kraut gewachsen, das einzige Mittel ist
Ehrgeiz. Der Wille, sein Forschungsprojekt zu beenden, koste es, was es wolle.
Die Wirtschaftswissenschaftler stehen auf.
Obersteins Blick bleibt an Bergstroms nackten Beinen hängen, die von
Mückenstichen übersät sind.
[250] 16
Die Treppe ist steil. »Halt dich fest«, sagt Violet. Seit dem
ersten Studienjahr hat sie immer mit Leuten zusammengewohnt, und obwohl sie sich
mittlerweile vermutlich eine eigene Wohnung leisten könnte, findet sie es immer noch viel gemütlicher so. Dass sie morgens
ab und zu warten muss, bis die Dusche frei wird, macht ihr nichts aus, und wenn
Leute von Privatsphäre anfangen, sagt sie immer: »Ich hab doch ein eigenes Zimmer!
Meine Tür kann ich jederzeit hinter mir zuziehen.«
In der Küche, die sie mit drei Mitbewohnern teilt, macht sie sich auf
die Suche nach Puderzucker, den Pfannkuchenmix in der Hand. Im Supermarkt hat sie
keine Plastiktüte gewollt. Blödsinn, wegen eines einzigen Artikels eine Tüte zu
nehmen, als dürfte bloß niemand sehen, was man gekauft hat.
So ist Roland. Übertrieben diskret, immer besorgt, andere
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