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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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Mall befindet. Eine Gruppe von Männern,
der jüngste Anfang dreißig, der älteste Ende fünfzig. Oberstein mit seinen einundvierzig
Jahren liegt so ziemlich in der Mitte.
    Von seinem wissenschaftlichen Ehrgeiz redet
er nicht. Wenn sein Buch fertig ist, sollen sie es lesen. Fragen danach beantwortet
er knapp, geradezu ängstlich. Ehrgeiz ist Energie, die aus der Überwindung von Angst
entsteht.
    [245]  Heute belastet Oberstein einiges mehr als an anderen Tagen. Er macht
die Menschen nicht glücklich. Vielleicht sollte er es doch einmal versuchen.
    Die Ökonomen haben einen Stammplatz in dem Restaurant, wo selten mehr
als drei Tische besetzt sind. Hegel bestellt für alle. Jede Gruppe braucht jemanden,
der bestimmt. Das Essen kommt schnell. Sie wissen hier, dass Ökonomen wenig Zeit
haben und hungrige Leute sind.
    Hegel drückt Oberstein eine Schüssel frittierter Riesengarnelen in die
Hand. »Was meinst du, wird Obama es schaffen?«, fragt
er. Das Gespräch ist verstummt. Alle schauen Oberstein erwartungsvoll an. Als habe
der liebenswürdige Europäer das entscheidende Wort in dieser Angelegenheit.
    Er nimmt drei Garnelen und stellt die Schüssel auf den Tisch zurück.
    Wenn er die Menschen unglücklich macht, muss er sie sich vielleicht noch
mehr vom Leib halten. Nicht alle natürlich, nur diejenigen, die ihm zu nah kommen.
    Er nimmt die Platte mit gegrilltem Fisch in Bananenblättern. Den Namen
des Fisches hat er nicht verstanden.
    »Meinungsumfragen sind weniger unzuverlässig, als man immer denkt«, sagt
er. »Wie viele Wochen sind es noch bis zur Wahl? Drei, vier. Ich meine, wir sollten
den Meinungsumfragen glauben.«
    Eine nichtssagende Phrase. Er könnte noch mehr sagen, aber er führt ungern
politische Gespräche. Schon gar nicht hier. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr hat
er nicht mehr gewählt. Damals, wenn er sich recht erinnert, stimmte er sozialdemokratisch,
weil er fand, dass das zu dem [246]  Wirtschaftswissenschaftler mit Anstand, der er zu werden hoffte,
am besten passte. Allmählich jedoch entwickelten sich seine Ideen in eine andere
Richtung. Vielleicht können Menschen tatsächlich der Neigung zum Machtmissbrauch
nicht widerstehen, aber ein Dschungel von Regulierungen und Gesetzen ist auch keine
vernünftige Lösung.
    »Ich weiß nicht«, sagt Bergstrom. »Wir nehmen allzu leicht an, dass Leute
den Meinungsforschern am Telefon die Wahrheit sagen. Aber vielleicht schämen sie
sich.«
    »Wofür sollten sie sich denn schämen?«, ruft Hegel
und verschlingt mit zwei Bissen drei ziemlich dicke Garnelen.
    Eliot Hegels Vater hatte eine Reparaturwerkstatt in einer kleinen Stadt
in Ohio. Auf dem Schild der Werkstatt stand »Hegel«, aber niemand dachte an den
Philosophen, alle dachten an Autos. So hatte Hegel es ihnen erzählt, als lustige
Anekdote. Nur Oberstein hatte nicht darüber gelacht.
    »Für ihren Rassismus«, antwortet Bergstrom. »Den behalten sie lieber
für sich.«
    »Unsinn«, sagt Hegel, während er ein großes Stück gedünsteten Fisch verdrückt,
»Rassisten sind stolz auf ihren Rassismus.«
    »Nein«, sagt Bergstrom und kratzt sich am Bein. »Das ist eine kleine
Minderheit, die schweigende Mehrheit dagegen schämt sich dafür – diese Leute neigen
vielleicht genauso dazu, sie haben die Veranlagung, die Prädestinierung, wenn du
so willst, aber sie haben ihre rassistischen Neigungen unterdrückt, weil die verpönt
sind.«
    Hegel schüttelt den Kopf. »Und wie darf ich mir das vorstellen?«, fragt
er, während etwas in seinem Mund verschwindet, das aussieht wie sauer eingelegtes
Schweineohr. Er kaut [247]  darauf herum. Alle sind still. »Wie darf ich mir das vorstellen?«,
wiederholt er. »Deine Freundin, Oberstein, die wohnt doch in Amsterdam? Wie kommst
du damit zurecht?«
    Für Hegel gehört Schlagfertigkeit unverzichtbar zu jeder Diskussion,
und dazu gehört Wendigkeit. Nur nicht zu lange bei einem Thema verweilen.
    »Sie wohnt in Amsterdam«, beginnt Oberstein zögernd und sieht einen Mann
im Anzug vor sich, mit einer Freundin in London, der aus fingerfertiger
Befriedigung anderer offenbar seinen Beruf gemacht hat.
Ein Banker vielleicht, ein Devisenhändler. Woher kommt plötzlich diese Wahnvorstellung?
    »Und das funktioniert?«, will der geniale Russe wissen.
    »Hier«, sagt Hegel, bevor Oberstein etwas antworten kann, »du hast nichts
von dem Schweineohr genommen.« Er schiebt ihm etwas Schweineohr auf den Teller.
    Pflichtschuldig beginnt Oberstein auf der
Stelle zu

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