Mit Haut und Haaren
konzentriert; wenn ihn irgendetwas beschäftigte, dann seine Arbeit.
Erst war sie enttäuscht, dann empört gewesen, hatte ihre Wut aber heruntergeschluckt.
Sie musste Lysander kennenlernen, damit der Zorn sich richtig legte. Roland beglich
seine Schuld, soweit »Schuld« das richtige Wort dafür ist, durch monatliche Überweisungen.
Geld kompensierte seine Abwesenheit. Er hatte sich freigekauft.
Viel Zeit für Selbstmitleid blieb ihr ohnehin nicht, denn ihre Beziehung
zu Lysander brachte neue Probleme mit sich, neue Abgründe, neue Fallstricke, aber
auch Glücksmomente. Und wenn unerwünschte Gefühle sie übermannten, sagte sie sich
immer: Es geht nicht um mich, es geht um das Kind.
Und das stimmte, darum ging es: allein um Jonathan, um das Kind.
Im Wohnzimmer hat sie mit einiger Mühe den Tisch freigeräumt, er war
voller Papiere, Spielzeug, Hörbücher, Magazine und alter Zeitungen. Meist essen
sie in der Küche. Als der Tisch leer war, hatte sie Lysander noch einmal angerufen,
doch ohne Erfolg. Manchen Leuten kann man nicht helfen. Vielleicht ist es das, was
sie gemeinsam haben, Lysander und Roland: Vielleicht hat sie eine Schwäche für Männer,
denen, jedem auf seine Weise, nicht zu helfen ist.
In der Küche wirbelt ihr Sohn eifrig herum. Alles ist fertig, fehlt nur
noch Violet.
»Jonathan, das ist eklig«, sagt sie. »Wasch dir die Hände, bevor du die
Bratpfanne anfasst.«
[258] »Wann kommt sie denn, Mama?«, ist die einzige Antwort.
Roland liebt die Distanz, und wenn die für seinen Geschmack nicht groß
genug ist, schafft er sie sich. Egal, was für eine, Hauptsache
Distanz, Distanz ist seine Passion. Zu allem, außer zu seinem Fachgebiet. Vielleicht
war es absehbar gewesen, dass ein Kind sein Distanzbedürfnis auf den Plan rufen
und er verstört die Flucht ergreifen würde. Denn das hat er getan: Er ist geflüchtet, nicht vor der Verantwortung, sondern vor der Nähe.
Doch immerhin hat sie, indem sie die Flucht zuließ, Jonathan seinen Vater erhalten.
Einen etwas nebulösen Vater zwar, aber besser als gar keinen. Papa ist eine Stimme
am Telefon.
Freundinnen haben zu ihr gesagt: »Wir haben es immer gewusst, Roland
taugt nicht zum Vater, er interessiert sich nur für seinen Beruf, für seine Karriere.«
Doch mehr noch als an seiner Unfähigkeit lag es an seiner inneren Verweigerung.
Denkt sie jedenfalls. Er wollte unfähig sein.
Sie stellt den Backofen aus. »Das Hähnchen ist fertig«, sagt sie. »Violet
wird gleich kommen.«
Sie betrachtet ihren Sohn.
»Wollen wir Papa kurz anrufen?«, fragt sie auf einmal. »Hast du Lust,
mit Papa zu reden? Vielleicht hat er Zeit für uns.«
Jonathan schüttelt den Kopf. Er will nicht mit Papa reden. Manchmal vergehen
Wochen, ohne dass er richtig mit ihm spricht. Dann hält er das Telefon an sein Ohr,
ohne etwas zu sagen.
»Aber ich will ihn kurz sprechen«, sagt sie.
Sie wählt die Nummer.
[259] Und während sie Jonathan ansieht, der wieder die Bratpfanne anfasst,
sagt sie zu ihrem Exmann: »Du rätst nie, wer heute Abend zum Essen hierherkommt!«
18
Dienstags nachmittags braucht er keine Vorlesung zu halten.
Auch diesen Nachmittag hat er für sein Buch reserviert. Der Untertitel lautete ursprünglich: Die Geschichte des Vertrauens, doch das Wort »Vertrauen«
weckt unliebsame, moralische Assoziationen. Außerdem drückt es nicht aus, worum
es ihm geht. Ehe man es sich versieht, denken die Leute an »enttäuschtes Vertrauen«,
und das ist in diesem Zusammenhang womöglich kein adäquater Begriff. Wer investiert – oder gar spekuliert –, weiß, dass seine
Investition im Wert sinken kann. Die Gefahr, alles zu verlieren, ist real. Spekulanten
wiegen sich gern in dem Glauben, einen noch unbekannten, aber desto schnelleren
Weg zum Reichtum gefunden zu haben. Wer unbedingt glauben will, dem ist nicht zu
helfen. Glaube macht blind. Eine andere Lehre kann man daraus nicht ziehen. Er siegt
über jede Vernunft.
Als er Linde von seiner Beziehung zu Violet erzählte und dass sie die
Freundin eines seiner Studenten war, hatte Linde erwidert: »Selbst wenn du den Kodex
deiner Universität nicht verletzt hast, gibt es doch trotzdem noch moralische Verpflichtungen.«
»Manche Leute machen daraus vielleicht ihr Hobby«, [260] hatte er entgegnet.
»Ich nicht, ich hab andere Dinge zu tun.«
Weinert klopft an Obersteins Tür, die wie
immer offen steht.
»Magst du mitkommen? Ich fahre ins Saks, mich nach einem neuen Jackett
umsehen, und dann zu Ikea.«
Weil
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