Mit Haut und Haaren
Kreativzelten und gegen ihn entscheidet. Doch
sie sagt nichts. Violet hat nichts gegen campen, aber wenn, dann auch richtig. Irgendwo
in der Wildnis. Ohne Kurse. Ohne Kolumnen. Wilden Tieren ausgesetzt. Bären zum Beispiel.
»Sie machte auch Yoga«, fährt Wytse fort.
Jetzt muss sie es sagen. Darum ist sie gekommen, um die Sache ordentlich
zu Ende zu bringen, damit er ihr später nichts vorwerfen kann. Um ihr Gewissen zu
beruhigen, das vielleicht auch.
»Was passiert ist, darfst du nicht so auf dich beziehen. [242] Es hatte
mehr mit meiner Beziehung zu tun als mit dir. Tut mir leid.«
Sie erwartet Betroffenheit, doch er schaut
nicht erstaunt.
»So was hast du auch schon am Telefon gesagt.«
Das stimmt. Sie hat es auch da schon gesagt, aber es ist doch etwas anderes,
wenn man sich extra die Mühe macht, jemanden noch mal zu treffen, um es ihm persönlich zu sagen, behutsam, aber entschieden.
Das ist, was man mit dem Wort »nett« bezeichnet, das ist Menschlichkeit. Dass man
alles noch einmal freundlich erklärt.
Mühsam quetscht sie das Buch von Murakami in ihre Tasche.
»Ich hab eine Verabredung zum Essen«, sagt sie. »Ich muss noch Pfannkuchenmix
kaufen.«
»Dann komm ich noch mit in den Supermarkt.«
Offenbar redet er genauso gern über Pfannkuchen
wie über Afrika. Sein Absatzmarkt bereitet ihm Kopfzerbrechen, aber für einen Pfannkuchenmix
lässt sich vieles vertagen.
Mit einer Entschiedenheit, die sie überrascht, verlangt er die Rechnung.
15
Ursprünglich war Roland Oberstein schüchtern. Nicht krankhaft, aber doch schüchtern genug, um während der ersten zwanzig
Jahre seines Lebens die Anwesenheit [243] anderer Menschen als unangenehm zu empfinden. Auf der Universität hatte er versucht, diese innere
Einstellung, soweit man es als solche bezeichnen kann, zu ändern. Mehr und mehr
betrachtete er seine Schüchternheit als ein Handicap, das man loswerden musste.
Wie jemand mit einem künstlichen Bein sich trotz der Behinderung fürs Langstreckenlaufen
entscheidet, so beschloss er, seine sozialen Fähigkeiten zu schulen. Schüchternheit
hemmte die Karriere. Ideen musste man nicht nur haben, man musste sie auch verkaufen
können. Genialität allein war nicht genug.
Er wurde Mitglied einer Studentenvereinigung, bot an, eine Konferenz
mitzuorganisieren, unternahm ein paar Gruppenreisen und arbeitete an sich. Angst
war dazu da, überwunden zu werden. Wie ein Soldat den Feind und seine Angst vor
ihm überwindet, so musste er seine Angst und seine Gegenüber bezwingen. Er ließ
sich nach Hause zum Essen einladen, nahm Blumen oder Pralinen für die Gastgeber
mit, alles lief glatt, und er gewann an Sicherheit, immer geschickter ging er mit
seiner sozialen Beinprothese um. Bis niemand mehr etwas bemerkte.
Allmählich begann er, sich mehr für die Leute zu interessieren. Ob diese
Neugier aus seiner Schüchternheit herrührt, könnte er nicht sagen. Sicher ist nur:
Er hat nie gern über sich geredet. »Sein Herz ausschütten« – er wüsste nicht, was
er sich darunter vorstellen sollte. Was gibt es da auszuschütten? Er hört den Leuten
lieber zu, solange sie mit einem gewissen Sachverstand reden. Die »wahre Leidenschaft« ist ihm zu wild – und obendrein verlogen. Er kann nicht
daran glauben.
Zum Lunch gehen die Dozenten – außer Weinert – in ein [244] chinesisches
Restaurant. Das Essen dort ist gut, für Fairfax zumindest, die Portionen sind riesig.
Meist fahren sie mit dem Jeep von Eliot Hegel. So auch heute. Hegel ist nicht verwandt
mit dem Philosophen, er ist ein vielfältig interessierter Wissenschaftler, der in einem Blog neben Fragen der Ökonomie auch solche
der Kochkunst behandelt. Die chinesische Küche ist sein Hobby. Vielleicht mehr als
das. Oberstein isst lieber französisch oder italienisch, aber er passt sich an.
Wie meistens sitzt Oberstein auch heute auf dem Rücksitz, eingeklemmt
zwischen Kollegen.
»Alles in Ordnung?«, fragt Hegel.
»Ja«, antwortet Oberstein.
Er macht nie Scherereien.
An manchen Mittagen mischt er sich aktiv ins Gespräch und versucht, genauso
schlagfertig zu parieren wie die meisten Kollegen, immer wieder aber fällt er in
seine alte Verschlossenheit zurück. Die Kollegen, über die geredet wird, kennt er
meist nicht persönlich, und er findet, ein bisschen Schüchternheit
passt ganz gut zu der Rolle des liebenswürdigen Europäers, die er hier in den USA spielt.
Sie steigen aus und gehen zu dem chinesischen Restaurant, das sich in
einer Shopping
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