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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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krampfhaften Schmerz.
    Eher ein Junge war er als ein Mann.
    Seine Haare waren glatt, dunkelbraun oder vielmehr schwarz, mit einem
bläulichen Schimmer. Die Augen. Der Körper. Alles peinigte Ranzenhofer.
    »Hat Probleme?«, fragte der Bote.
    Wie bei seinem ersten Besuch verzauberte Ranzenhofer Enriques Akzent.
Es war, als würden die Stimme, die Intonation, das den Mund umspielende Lächeln
seinen Körper und sein Gesicht erst vervollkommnen. Alles an ihm war rein, rein
und unversehrt. Jemand hatte sich bei der Erschaffung
des Jungen, der hier vor ihm stand, selbst übertroffen.
    Für ihre Begegnung hatte Ranzenhofer die Krawatte abgelegt und die obersten
Knöpfe seines Hemdes geöffnet.
    »Ich bin der Bürgermeister von Brooklyn«, hatte er gesagt und war mit
der flachen Hand über den Schreibtisch gefahren. »Ich
bin da für die Bürger. Für meine Familie. Und auch für dich.«
    »Wohne in Queens«, sagte der Bote.
    »Egal, wo du wohnst. Jetzt bist du hier.
Hier ist Brooklyn.«
    Jason war hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen und langsam auf den
anderen zugegangen. »Enrique, nicht wahr?«, hatte er gefragt. »Enrique?« Er hatte
den Namen [314]  ausgesprochen wie den einer Fee oder eines Märchenprinzen.
    Der Bote hatte genickt.
    »Hast du Familie?«, fragte Jason Ranzenhofer.
    »Frau und Kind. Kleines Kind. Baby. Elf Monate.« Mit den Händen machte
der Bote vor, wie klein das Baby noch war.
    »Ich bin ein Familienmensch«, sagte der Bezirksbürgermeister. Er stand
jetzt direkt neben dem Boten. »Ich glaube an die Familie. Die Familie ist der Grundpfeiler
der Gesellschaft. Die Familie hält das Individuum im
Zaum.«
    »Das Individuum«, wiederholte der Bote, offenbar
völlig verständnislos.
    »Was ich jetzt sage, klingt vielleicht seltsam«, sagte Ranzenhofer, »und
vielleicht haben schon viele Leute das zu dir gesagt, aber ich möchte dir helfen.
Das tue ich nämlich am liebsten, Menschen helfen.«
    »Aber komme aus Queens.«
    »Egal«, sagte Ranzenhofer noch einmal und begann, den Boten langsam zu
umkreisen. Von welcher Seite er ihn auch betrachtete, überall war er schön. Der
Hintern, die Beine. Fast zu schön.
    Der Körper des Jungen erfüllte Ranzenhofer mit Wehmut, er zeigte ihm,
dass sein eigenes Leben eigentlich schon gelaufen war.
    »Woher kommst du ursprünglich?«, fragte er und berührte kurz den rechten
Arm des Boten.
    »Guatemala.«
    »Und wie lange bist du schon hier?«
    »Fünf.«
    [315]  »Fünf was? Monate? Jahre?«
    »Jahre.«
    Ranzenhofer setzte sich an den Schreibtisch. Das Telefon läutete, er
nahm ab und sagte: »Ich bin in einem Gespräch.« Dann legte er wieder auf.
    Vielleicht war das hier der tiefere Grund, warum er Bürgermeister geworden
war: um diesem Boten zu begegnen, ihn wie ein Fuchs zu umschleichen. Um ihm zu helfen.
Endlich jemandem wirklich zu helfen.
    »Ich will dir ein besseres Leben ermöglichen«, sagte er und nahm einen
Stift.
    »Nicht nötig. Leben ist gut.«
    »Du kannst mehr. Mehr als das hier.« Er zeigte auf die Botenuniform.
Sein eigenes Leben stand fest, keine Veränderung mehr möglich, Überraschungen ausgeschlossen.
    »Kunden zufrieden, ich zufrieden.«
    »Zufrieden«, murmelte Ranzenhofer, »zufrieden! Wenn alle sich immer zufriedengegeben
hätten, würden wir jetzt noch den wilden Tieren hinterherlaufen.« Und während er
das murmelte, fühlte er sich alt. Er war ein Mann mit Bauchansatz, schütteren Haaren,
einer geröteten Nase mit geplatzten Äderchen. Die öffentlichen
Verpflichtungen. Trinken, essen, noch mehr trinken, noch
mehr essen. War er je attraktiv gewesen, jetzt war er es nicht mehr, eigentlich
war er mehr tot als lebendig. Mit nur einer einzigen Rettungsboje in Sicht: dieser
Schreibtisch, sein Job.
    »Wie heißt du?«
    »Enrique.«
    »Mit Nachnamen, meine ich.«
    [316]  »Martínez.«
    »Wo wohnst du?«
    »Queens.«
    »Aber wo? Deine Adresse?«
    »Ist wichtig?«
    »Ja, Enrique, das ist sehr wichtig.«
    »Nicht nötig.«
    Ranzenhofer stand wieder auf. Er stellte sich neben den Boten, legte
ihm den Arm um die Schulter. Auch die Berührung folterte ihn. Quälend war das hier,
quälend und peinlich. Seine Fragen, der Körper des Boten. Warum hatten sie ihm keinen
andern geschickt? Einen hässlichen, so wie die meisten, mit schlechter Haut, ruiniertem
Gebiss und erloschenem Blick?
    »Mr. Brooklyn wird dir helfen«, sagte Ranzenhofer. »Amerika wird dir
helfen. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Amerika dir hilft.«
    Er setzte sich

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