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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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wieder. Statt Schmerz erfüllte ihn jetzt Energie, wie
im Wahlkampf, als sei dieser Mann ein Wähler, der überzeugt werden musste. Ein ganz
besonderer Wähler.
    »Also, wo wohnst du?«, fragte Ranzenhofer. »Keine Adresse, keine Hilfe.«
    »204th Street«, hatte Enrique erwidert.
    Ranzenhofer hatte sich die exakte Anschrift notiert.
»Ich helfe Neuankömmlingen gern«, hatte er gesagt. »Ich geb zu, ich hab dich hierhergelockt,
aber in bester Absicht. So wie man Wähler anlockt, manchmal mit plumpen Mitteln,
sie wollen es nicht anders, aber immer in bester Absicht.« Dann war der Bote wieder
gegangen. Ranzenhofer war zu [317]  seiner Sekretärin geschlendert, hatte freundlich
gelächelt und zu ihr gesagt: »So eine Hitze, jetzt könnte ich einen Eistee gebrauchen.«
    Nun sitzt er auf seinem Bett in Albany, hält sein Handy ans Ohr, den
Blick auf die Krampfadern an seinen Beinen gerichtet und sagt: »Hier noch mal Jason
Ranzenhofer. Ich möchte Enrique sprechen.«
    6
    Auf dem Sofa sitzt Nancy. Sie sieht fern. Lea sagt: »Das hier
ist Roland«, und zückt das Portemonnaie, um zu bezahlen.
    Roland gibt dem Mädchen die Hand. Er bleibt stehen, verkrampft, wie von der Situation überfordert, als schäme er sich für
seine familiäre Geste dem Babysitter gegenüber.
    »Danke«, sagt Lea, nachdem sie Nancy das Geld überreicht hat. »Bis bald.«
    Das Mädchen zieht seine Jacke an und geht.
    Erst als sie die Tür ins Schloss fallen hört, seufzt Lea erleichtert
auf und erklärt: »So, hier wohne ich.« Sie stellt den Fernseher aus.
    Roland betrachtet das Bücherregal. »Viel Völkermord«, sagt er, mit deutlicher
Anerkennung.
    »Die ganze Wand hier ist Holocaust, und im Schlafzimmer steht noch mehr.
Möchtest du etwas trinken?«
    »Wein. Wenn du welchen hast.« Er nimmt ein Buch aus dem Regal.
    [318]  Er hat es in fragendem Ton gesagt, als wisse er selbst nicht, was
er trinken möchte.
    Sie geht auf ihn zu, legt ihm den Arm um die Schulter, schaut auf das
Buch, in dem er blättert. »Ah, die Celan-Biographie. Von Celan müsstest du auch
mal was lesen.«
    Er stellt das Buch zurück. »Da steht, er war Dichter. Dichter sind nichts
für mich«, antwortet er.
    Sie schenkt zwei Gläser Rotwein ein und zeigt auf den hohen Küchentisch,
der auch als Bar benutzt werden kann.
    »Dein Mann wohnt auch hier, nicht wahr?«
    »Ja, natürlich. Wieso?«
    »Weil du eben gesagt hast: Hier wohne ich. Ich. «
    »Hier wohnen wir. So besser? Wir, mein Mann, meine Kinder und ich.«
    Er scheint darauf aus zu sein, ihre Lust abzutöten, doch das wird ihm
nicht gelingen. Ihr Verlangen ist größer als seine Zerstörungswut.
    »Und du weißt ganz bestimmt, dass er nicht jeden Moment hereinkommen
kann?«, fragt Roland. Er stellt sich vor sie, als hätte er Angst, sich zu setzen,
weil er dann die Wohnung nicht mehr verlassen wird.
    »Ganz bestimmt.«
    Endlich ist er hier, in ihrer Wohnung. Die Kinder schlafen, der Babysitter
ist weg. In ihrem Kopf hatte sie ein Drehbuch erstellt, vielleicht korrekter: Es
hatte sich eines entwickelt, aber jetzt weiß sie nicht mehr, wie es weitergehen
soll. In ihrer Phantasie war alles so einfach gewesen, die Realität aber ist unübersichtlich.
    »Prost«, sagt sie. »Hast du was gegen Dichter?«
    Vorsichtig setzt Oberstein sich auf einen der Barhocker, [319]  stützt sich
auf den Tresen und bemerkt plötzlich eine Katze, die durchs Wohnzimmer läuft.
    »Er ist dick«, sagt sie.
    »Wer?«
    »Der Kater – zu dick. Aber ich hatte dir eine Frage gestellt.«
    Solange sie redet, geht er nicht weg, solange Wein vor ihm steht, wird
er bleiben.
    »Gedichte bringen mir nichts über die Wirklichkeit bei. Höchstens über
den Dichter, aber Dichter interessieren mich nicht. Gedichte sagen mir genauso wenig
wie Hip-Hop, die Schönheit von Piercings oder irgendwelche Sternchen.«
    »Fandest du sie nicht schön?« Lea denkt an den Park.
    »Ich meine Hollywoodstars.« Er lacht. »Mit wem sie ins Bett gehen, was
für Drogen sie nehmen, an welche Götter sie glauben, es interessiert mich nicht.
Manchmal nennen meine Studenten einen Namen, den ich noch nie gehört habe. Dann
fühle ich mich alt. Oder als ein Fremder. Oder vielmehr: als ein in die Jahre gekommener
Fremder. – Was ist?«
    »Ich musste gerade an meinen Großvater denken.«
    »Was ist mit deinem Großvater?«
    »Er ist krank. Er hat eine aggressive Form
von Demenz.«
    »Das ist traurig.«
    Lea geht zum Bücherregal. Sie nimmt den Band mit den Celan-Gedichten
und setzt

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