Mit Haut und Haaren
ist nass«, sagt er.
»Es hat seit Tagen nicht geregnet.«
Sie steht auf, zieht ihn mit auf den Rasen, sie legen sich hin. Das Gras
ist nicht nass, aber kalt. Kurz schauen sie zum Himmel, und er denkt an all die
ästhetischen Genüsse, die er sich bislang hat entgehen lassen. Wirkliches Bedauern
kann er nicht dabei empfinden.
[310] Wieder küssen sie sich, seine Hand gleitet über ihre Schenkel, er
schiebt ihr Kleid hoch, betastet ihren Slip.
Das hier ist Lust. Hier wird nicht überlegt, der Autopilot muss übernehmen,
ein Instinkt, der nichts mit dem Denkvermögen zu tun hat. Ein Automatismus, von
Verstand und Forschung getrennt. Er schiebt seine Hand in ihren Slip.
»Lass es uns nicht hier machen«, sagt sie.
»Nicht hier. Und wo dann?«
»Bei mir zu Hause. Ich muss sowieso gehen, die Babysitterin wartet.«
Er steht langsam auf; auch Lea rappelt sich hoch und richtet ihr Kleid.
»Und dein Mann?«
»Mein Mann ist in Albany.«
»Vielleicht kommt er früher zurück.«
»Er ist in Albany. Ich habe heute Abend noch mit ihm telefoniert.«
»Das ist zig Stunden her. Vielleicht hat er es sich anders überlegt,
vielleicht dachte er, ich will meine Frau überraschen, und dann kommt er herein
mit einem großen Strauß Blumen, und ich bin da, nackt, oder halbnackt – das ist
keine gute Idee, das ist schlecht für alle Beteiligten.«
»Er wird mich nicht überraschen. Er hat mich seit Jahren nicht mehr überrascht.«
»Das ist kein Beweis, auch vom empirischen Standpunkt aus wenig überzeugend.
Der Mensch ist ein wetterwendisches Wesen. Ich weiß, wie Männer sind. Sie mögen
es nicht, wenn andere Männer halbnackt durch ihre Wohnung laufen. Und sie scheinen
einen sechsten Sinn dafür zu haben. Dann sagen sie, heute überrasche ich meine Frau
mit [311] einem Strauß Blumen, aber in Wirklichkeit wollen sie nur nachsehen, ob nicht
irgendwer halbnackt durch ihre Wohnung rennt.«
Sie gehen zum Parkausgang, Hand in Hand.
»Soll ich ihn anrufen?«, fragt Lea. »Würde
dich das beruhigen?«
»Ja, ruf ihn an. Bitte. Mir ist sonst nicht wohl bei der Sache. Ich kenne
die Männer.«
Beim Parkausgang nimmt sie ihr Handy.
»Er geht nicht ran«, sagt sie. »Ich denke, er schläft. Bist du jetzt beruhigt?«
»Eigentlich nicht.«
Sie gehen weiter. Er ist neugierig, wie ihre Wohnung, ihr Schlafzimmer
aussieht. Wer ein verlässliches Modell der Wirklichkeit aufstellen will, muss hin
und wieder zu den Leuten nach Hause. Man kann so eine Theorie nicht ausschließlich
auf Logarithmen und mathematischen Gleichungen aufbauen.
»Sollen wir die U-Bahn nach Brooklyn nehmen?«, fragt sie.
»Bist du verrückt? Um diese Uhrzeit? Ein Taxi!«
Sie bleibt stehen. Fährt ihm über die Nase.
Sie sagt: »Du musst wissen, in Autos wird mir schnell schlecht.«
[312] 5
In seinem Hotelzimmer in Albany hat er sich ausgezogen bis
auf die Unterhose. Seine Kleidung liegt auf einem Stuhl neben dem Bett. Jason Ranzenhofer
hält das Mobiltelefon in der Hand, der Fernseher läuft ohne
Ton. Baseball.
Enrique war nicht zu Hause. Seine Frau meinte:
»Später anrufen.«
Jetzt ist es später. Ranzenhofer sitzt auf dem Bettrand, wartet noch
etwas, verrückt die Fernbedienung auf dem Nachttisch.
Der Kundenservice von UPS hatte äußerst
verständnisvoll reagiert. Ranzenhofer hatte gesagt: »Ein Bote, der gerade hier war,
hat sich mir gegenüber unmöglich benommen, aber ich will keinen großen Wind um die
Sache machen, er soll keine Schwierigkeiten bekommen, ich möchte nur, dass er sich
persönlich bei mir entschuldigt. Ich will es aus seinem eigenen Mund hören, verstehen
Sie? Verlange ich zu viel? Ist das ein unbilliger Wunsch?«
Die Frau im Call-Center hatte ihn zu einem Manager weiterverbunden, und
der fand, dass Ranzenhofers Wunsch alles andere als unbillig war, in Anbetracht
der Umstände geradezu ein freundliches Entgegenkommen.
Am nächsten Morgen war Enrique erneut bei ihm erschienen, selbe Uniform,
selbes Gesicht. Diesmal jedoch ohne Päckchen.
Jason Ranzenhofer hatte zu den Sekretärinnen gesagt: »Ich bin kurz beschäftigt«, und hatte die Tür zwischen seinem und ihrem Büro zugemacht.
[313] Der Mann hatte vor seinem Schreibtisch gestanden, zögernd, so schien
es, unsicher, was ihn erwartete, und wieder fühlte Ranzenhofer sich von der Schönheit
des UPS -Boten getroffen.
Seine Schönheit wirkte nicht belebend auf ihn, nicht begeisternd, war kein Vergnügen;
sie bewirkte keine Versöhnung mit dem Leben, sondern nur einen
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