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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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passte.
    Er unterschrieb, während er den jungen Mann unverwandt anblickte. Nie
zuvor hatte er gespürt, dass Schönheit einen überwältigenden Schmerz bedeuten konnte.
Vielleicht war es nicht die Schönheit des Boten, die ihn [304]  fertigmachte, sondern
sein eigenes, brennendes Verlangen. Er erlag ihr vollkommen, und zurück blieb ein
tiefer, alles durchdringender Schmerz.
    Er holte ein Taschentuch hervor und knetete es in der Hand, während er
tat, als studierte er das Päckchen. Das Angeln nach seinen Schuhen hatte er aufgegeben.
    Schon wandte sich der Bote zum Gehen. »Einen Moment, bitte«, sagte Ranzenhofer.
    Seine Haut, seine Augen, sein Haar, seine Behaarung oder besser: deren
Abwesenheit. Er hatte keinen Bart, keinen Schnauzer – keine Behaarung, wo andere
Männer behaart sind. Alles traf ihn ins Mark, brannte sich ihm ein, alles durchbohrte
den Bürgermeister von Brooklyn.
    »Wie heißt du?«, fragte Ranzenhofer.
    »Enrique«, sagte der Bote. »Alles in Ordnung?«
    »Alles in Ordnung«, bestätigte der Bezirksbürgermeister.
    Selbst der Akzent des Boten rührte ihn, als machte er den jungen Burschen
noch schöner, trüge auf rätselhafte Weise zu seiner Unwiderstehlichkeit bei.
    Der UPS -Bote verschwand wieder, und Jason
Ranzenhofer blieb allein in seinem Büro zurück. Nicht imstande, sein Spiel am Computer
wiederaufzunehmen und dann eine Rede zu schreiben, mit der er eigentlich schon längst
hätte anfangen sollen. Die Belanglosigkeit dieser Reden war ihm bewusst, er hatte
damit zu leben gelernt – ja mehr als das: gelernt, sie zu lieben –, doch für einen
Moment verlor alles seinen Sinn. Die Gewissheit, dass sie doch zu irgendwas gut
waren, und sei es nur als beruhigendes Ritual, hatte ihn verlassen.
    [305]  Zehn Minuten lang blieb er so sitzen, gelähmt von einem ungekannten
Schmerz, da schloss er die Tür zum Vorzimmer. Er rief UPS an und sagte: »Ich muss mich beschweren, aber bitte behandeln Sie die Sache vertraulich.
Verstehen Sie, ich hänge das nicht gern an die große Glocke, ich bekleide ein öffentliches Amt, ich bin Jason Ranzenhofer, der Bezirksbürgermeister
von Brooklyn.«
    Er zittert, wenn er auf dem Bett in seinem Hotel in Albany an dieses
Gespräch denkt.
    Jason kann seine eigene Unbesonnenheit noch immer nicht fassen.
    Wahrscheinlich bekommt er Enriques Frau an den Apparat, wenn er jetzt
anruft. Egal. Etwas in ihm ist stärker als seine angeborene
Vorsicht, etwas in ihm sehnt sich nach Ruchlosigkeit.
    4
    »Would you like to have a look at the stars?«, fragt Lea.
    »Stars?« Sie sind doch nicht in Hollywood.
    »Stars«, wiederholt sie und zeigt nach oben.
    Sie sind die letzten Gäste im Restaurant. Den Nachtisch haben sie ausfallen
lassen. Als Roland Mayonnaise zu seinen Pommes frites verlangte, hatte Lea gesagt:
»Interessant! Kein Amerikaner würde das machen, nur wenn er, aus was für Gründen
auch immer, sich als Europäer ausgeben will.«
    »Du hältst also«, hatte Roland erwidert, »die Mayonnaise [306]  für einen
kulturrelevanten Unterschied? Für ein Symbol des alten Europa?« Kurz darauf hatte
er das Mayonnaiseglas in die Höhe gehalten und gefragt: »Dies hier unterscheidet
also meine Kultur von der deinen?«, und hatte lauthals gelacht.
    Sie hatte genickt, worauf er erwiderte: »In Südfrankreich essen sie keine
Mayonnaise zu ihren Pommes frites. Du beleidigst die Leute in Nizza, wenn du sagst,
das hier sei europäisch.«
    Er hatte noch vorgeschlagen, die junge Bedienung zu fragen, wie viele
Amerikaner in diesem Restaurant Mayonnaise zu ihren Pommes frites verlangten, aber
Lea hatte ihn beschworen, es zu lassen. »Sie ist hochnäsig«, hatte sie gesagt. »Sie
wird nicht verstehen, worauf du hinauswillst.«
    Auch wenn er an der George Mason den liebenswürdigen Europäer mimt, möchte
er trotz seines Akzents immer am liebsten für einen Amerikaner gehalten, oder besser
gesagt: außerhalb der Universität lieber nicht als Europäer erkannt werden, als
der Ausländer, der noch etwas mehr Fremder ist als die übrigen Immigranten hier.
    Er bezahlt. Sie hat ihr Portemonnaie schon gezückt, doch er sagt: »Lass
nur, das geht auf meine Rechnung.« Wenn er bezahlt, fühlt er sich unabhängig. Wenn
er bezahlt, ist er niemandem etwas schuldig.
    Sie verlassen das Restaurant und stehen auf der Amsterdam Avenue. Im
Hinausgehen hat er noch schnell ein Kärtchen mitgenommen.
    Es ist eine fast wolkenlose Nacht.
    »Ich dachte, wegen der Luftverschmutzung könne
man die Sterne gar

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