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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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nicht mehr sehen?«, meint Roland. Man sieht in der Tat welche,
aber eigentlich interessieren sie ihn nicht.
    [307]  »Ich habe nicht viel Zeit«, sagt Lea. »Der Babysitter muss nach Hause,
aber wenn du möchtest, können wir in den Riverside Park gehen.«
    Er zögert. Morgen früh muss er nach Fairfax zurück. Es war ein amüsanter
Abend, er hat ein paarmal gelacht, Lea ist eine einnehmende, intelligente Frau,
schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Doch ein Spaziergang durch den Riverside
Park? Muss das sein? Eigentlich möchte er lieber nach Hause. Er möchte noch etwas
lesen und arbeiten.
    Roland schaut auf sein Handy. Violet hat ihm eine SMS geschickt.
    »Die Sterne«, sagt er, »ich weiß nicht, ich hab sie mir seit Jahren nicht
mehr angesehen. Hab ich was versäumt?«
    Sie nimmt seine Hand. »Sie sind schön«, sagt sie. »Die Sterne, aber auch
deine Hände.«
    »Lieb, dass du das sagst. Aber ich muss eigentlich an meinen Schreibtisch
zurück, mein Forschungsprojekt wartet. Weißt du, was das Interessante an der Krise
ist, daran, dass jetzt alles durchdreht? Fast alle wirtschaftswissenschaftlichen Modelle haben sich als unzutreffend erwiesen. Als hätte die Wirklichkeit sich von ihnen losgerissen,
wie ein durchgehendes Pferd, das seinem Herrn den Dienst verweigert. Ich weiß, das
klingt nicht sehr romantisch, aber das bin ich nun mal nicht.«
    Lea sagt nichts. Schweigend gehen sie Richtung Park.
    Menschen kosten Zeit. Wie kann er das den Leuten nur klarmachen, ohne
unhöflich zu sein? »Ihr seid lieb und nett, aber ihr fresst zu viel Zeit«? Das geht
nicht. Trotzdem spaziert er nicht bloß aus Höflichkeit an Leas Hand Richtung Riverside
Park.
    [308]  »Ich denke, du bist ziemlich romantisch«, sagt sie. »Und langweilen
tue ich mich mit dir auch nicht.«
    Er hat durchaus einen Sinn fürs Ästhetische, aber der Eindruck geht meist
nicht sehr tief; er kann sich nur schwer vorstellen, wie Sterne irgendjemanden rühren
können. In der Regel misstraut er solchem Gefühlsüberschwang. Ihn selbst rühren
höchstens ökonomische Modelle, seine Forschungsergebnisse, aber er weiß, wie persönlich
das ist, wie subjektiv. Noch knapp keine geistige Störung, aber doch merkwürdig.
    Sie setzen sich auf eine Bank. Der Wind kommt von Süden, es ist warm
für die Jahreszeit.
    Menschen. Er freut sich nicht, wenn sie da sind, ist fast erleichtert,
wenn sie wieder gehen. Das wirft man ihm regelmäßig vor:
einen Mangel an Fröhlichkeit, an Liebe zum Menschen, eine Zurückhaltung, die sich
bei näherem Hinsehen als Kälte entpuppt.
    Lea schaut zum Himmel, immer noch hält sie seine Hand. Er schaut auf
ihre Beine, meint, sehen zu können, dass sie sich beim Epilieren verletzt hat. Schwer
zu sagen, bei diesem Licht. Ist Neugier kein triftiger
Grund? Geht Neugier nicht den meisten Erfahrungen voraus, wenn ihnen überhaupt irgendetwas
vorausgeht?
    Ich bin nicht romantisch, aber ich bin neugierig. Ich liebe dich nicht,
aber ich will wissen, wer du bist. So könnte man es sagen.
    Außerdem fühlt er sich verpflichtet – wie
immer, wieder einmal. Er sitzt hier im Park, um halb zwölf in der Nacht. Wenn er
jetzt keinen Vorstoß macht, wird er enttäuschen.
    Die unzähmbare Lust, von der andere oft sprechen,
vor allem die Männer, hat er kaum je erlebt. Zwei-, dreimal im [309]  Leben vielleicht
hat ein solches Gefühl ihn angesprungen. Und noch ein paarmal allein, ohne Gesellschaft, in der Einsamkeit seines Studierzimmers, beim Denken.
    Diese Lust, von manchen schamlos einfach Liebe genannt, würde er zwar
gern einmal kennenlernen, aber nur, wenn seine Forschung nicht darunter leidet.
    Roland küsst sie. Er schmeckt so etwas wie Kamillentee, doch das kann
auch Einbildung sein, er weiß ja, dass sie keinen getrunken hat.
    Sie löst sich von seinem Mund.
    »Ist es das, was du wolltest?«, fragt sie.
    Die Frage verwirrt ihn. Was soll er jetzt sagen? Was erwartet sie? Führt
sie hier ein Stück auf, und er ist nur eine Figur? Vielleicht hat sie sich ihren
Text schon vorher zurechtgelegt, für den Fall, dass es zum Küssen käme.
    Und er antwortet: »Ja, das wollte ich.«
    Sie küssen sich wieder, kurz denkt er an die Vorlesung, die er morgen
halten muss. Die Veranstaltung wurde auf den Nachmittag verlegt, wegen einer Konferenz,
die einige Mitglieder der Fakultät organisiert haben. Er nimmt nicht aktiv daran
teil, möchte aber ein paar Vorträge hören, aus Interesse, und auch aus Pflichtgefühl.
    »Legen wir uns ins Gras.«
    »Das

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