Mit Haut und Haaren
sich wieder neben Roland.
»Die Leute sind so borniert«, murmelt sie, während sie blättert, »nichts
als Vorurteile.«
Sie schiebt ihm das Buch hinüber. »Hier,
Roland. Lies.«
Er beginnt zu lesen.
[320] »Laut«, sagt sie. »Ich will deine Stimme
hören.«
Einen Moment lang schaut er sie verdutzt an, als wolle er sagen: Aber
du hörst meine Stimme doch. Die ganze Zeit schon.
»In welcher Sprache?«, fragt er. »Die Ausgabe
ist Deutsch-Englisch.«
»Darfst du dir aussuchen.«
»Es war Erde in ihnen, und / sie gruben«, liest er auf Deutsch.
Er wartet und schaut sie an, als habe er schon
wieder genug.
»Weiter«, sagt sie.
»Sie gruben und gruben, so ging / ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie
lobten nicht Gott, / der, so hörten sie, alles dies wollte, / der, so hörten sie,
alles dies wußte.«
Sie hat ihre Hand auf seinen Oberschenkel gelegt. Er schaut sie an, schiebt
das Buch ein paar Zentimeter von sich weg.
»Und?«, fragt sie.
»Interessant«, antwortet er nach einer kleinen Pause und nimmt noch einen
Schluck Wein. Der Wein färbt seine Lippen rot.
»Ich finde es erregend«, sagt sie. »Du und
Celan. Celan und du hier am Tisch. Verstehst du, was ich meine?«
»Nein, um ehrlich zu sein, nicht. Nicht wirklich. Ich bin nicht unempfänglich
für Schönheit, aber ich bin auf der Hut vor Betrug. Und Celan ist nicht hier. Celan
ist tot. Ich habe gerade gelesen, er ist in die Seine gesprungen.«
Sie lässt sein Bein los. Betrug? Meint er sie? Meint er, dass sie ihn
täuscht?
[321] »Erkennst du die Schönheit nicht?«
»Erkennen?« Er spielt mit seinem Glas. »›Hören‹ vielleicht. Erkennen
kann ich Schönheit zum Beispiel bei Adam Smith oder in einer mathematischen Gleichung,
einem Logarithmus, einem verlässlichen Modell der Wirklichkeit, das sich überprüfen
und korrigieren lässt, und dieser Schönheit traue ich, während die Schönheit von
Celan mir unglaubwürdig erscheint. Sie lässt mich außen vor. Ich kann nichts in
ihr erkennen.«
Sie sieht ihn an. Perplex. Sprachlos. Sie versteht nicht, wie Leute,
denen sie mehr zugetraut hätte, unempfänglich für Dinge sein können, die sie tief
berühren.
»Du hast eine schöne Stimme«, sagt sie. »Vor allem, wenn du Deutsch liest.
Dann wird sie noch schöner. Findest du es unangenehm, dass ich das sage?« Dann muss
sie ihn eben so verführen. Um seine Stimme geht es eigentlich nicht, aber ein Kompliment
hat in einer Situation wie dieser noch niemals geschadet.
Er schüttelt schweigend den Kopf.
Lea sagt: »Mein Mann hat nie Deutsch gelernt.«
»Kein Mensch ist vollkommen«, antwortet Roland.
Dann beginnt sie, ihn zu küssen. Sie wirft sich
auf ihn, wie eine Mutter auf ihr todkrankes Kind. Sie muss ihn wachrütteln, er scheint
nicht wahrhaben zu wollen, dass er lebt, ja alle Lebenslust scheint ihm zu fehlen.
[322] 7
Jason Ranzenhofer zittert. Vielleicht hätte er doch etwas anziehen
sollen. Immer noch sitzt er in Unterhose auf dem Bettrand in seinem komfortablen
Hotel in Albany und wartet, dass Enrique ans Telefon kommt. Es dauert eine Ewigkeit,
er betrachtet seine Zehen und die darauf wuchernden Haare.
Er hätte nie gedacht, dass es ihm im Leben noch einmal so ergehen würde:
zittern, an nichts anderes mehr denken als an einen Paketboten. Mitten in der Nacht
die Stimme des Jungen herbeisehnen, die ihm das Leben erst schön macht. Das ist
es. So hat er es zu ihm gesagt: »Du machst mein Leben erst schön.«
So würde er es wieder sagen. Für sich behalten würde er: »Du quälst mich.
Deine Unerreichbarkeit ist wie ein Schmerz.« Das würde er niemals aussprechen.
Stärker als alle Familienpflichten ist diese
Leidenschaft, stärker als die Relikte seiner langsam,
aber sicher verkümmernden Ambitionen, womöglich fast so groß wie die Liebe zu seinen
Kindern.
Enriques Frau hat gesagt, sie würde ihn holen. So groß kann die Wohnung
in Queens doch nicht sein.
Endlich hört er seine Stimme.
»Enrique«, sagt Jason.
»Warum mich anrufst zu Hause?«, fragt Enrique. »Kind schläft. Nicht zu Hause anrufen, habe gesagt.«
»Es war ein Notfall«, sagt Jason. »Ein Notfall, Enrique. Und dein Handy
war aus.«
[323] Er hatte ein Detektivbüro eingeschaltet, dessen Dienste er bereits
früher einmal in Anspruch genommen hatte. Als Politiker braucht man manchmal Informationen,
die die Leute einem nicht freiwillig geben. Man muss verhindern, dass sie zum Feind
überlaufen, indem man sie daran erinnert, was man alles über sie weiß.
Weitere Kostenlose Bücher