Mit Herz und High Heels - Clark, B: Mit Herz und High Heels - The Overnight Socialite
die marinierten Jakobsmuscheln und die Risotto-Bällchen auf ihrem Tablett interessierten. Das war nicht der triumphale Abend ihrer Träume, so viel stand schon mal fest. Ständig musste sie wieder in die Küche hetzen, wenn ihr Tablett wieder zu leicht wurde, und den Gästen leere Gläser und benutzte Servietten abnehmen – Kellnern statt Kontakten war angesagt. Aber irgendwie
schaffte sie es, dem schmerzhaften Stachel der Enttäuschung zum Trotz ein Lächeln aufzusetzen. Als sie sich in das Kellnerinnenkostüm gezwängt hatte, da hatte sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben wollen und sich noch schnell ein paar Visitenkarten in den Wonderbra gestopft. Aber wenigstens konnte sie die unglaubliche Kulisse ringsum aufsaugen wie ein Schwamm.
Und die Kulisse war wirklich atemberaubend. Die Models – die allesamt aussahen wie frisch aus der Krypta exhumiert und zu Nolas tintenschwarzer Farbpalette androgyne Stoppelfrisuren trugen – stolzierten im Stechschritt zum primitiven Beat einer Basstrommel über den Laufsteg. Sie sahen aus, als seien sie aus einer futuristischen Tuberkulose-Station entlaufen. Innovation statt Schönheit – das war genau Nolas Stil. Ihre Kleider erinnerten mehr an geometrische Konstellationen, geschaffen von einem Mondrian auf Acid. Eins der Models sah aus, als hätte es eine schlimm deformierte linke Hüfte. Genau die Mode, wie Kritiker sie liebten und echte Frauen sie verabscheuten, dachte Lucy Jo, und sie konnte den echten Frauen nur aus ganzem Herzen zustimmen.
Das Publikum starrte wie gebannt auf den Laufsteg. Lucy Jo konnte die beinahe greifbare Spannung spüren, die in der Luft lag. Manche kritzelten Notizen; andere folgten den Models nur mit den Augen, als beobachteten sie ein ungeheuer langsames Tennisspiel in Wimbledon. Die Blitzlichter der hektisch knipsenden Phalanx von Fotografen am Ende des Laufstegs tauchten den Saal in ein unruhig tanzendes Stroboskoplicht, das an das legendäre Studio 54 gemahnte.
Lucy Jo rückte ihr Tablett zurecht und wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Eines Tages werde ich in Nolas Fußstapfen treten , dachte sie. Natürlich nur bildlich gesprochen – diese SM-inspirierten Plateau-Treter wirkten
genauso unbequem wie die Stiefel, in die Lucy Jo gezwungen worden war, ihre Füße zu quetschen.
Ein Model in einem langen anthrazitgrauen Kleid blieb des dramatischen Effekts wegen kurz am Ende des Laufstegs stehen, auf dessen glänzender Oberfläche ihr Spiegelbild schimmerte. Lucy Jo stockte der Atem. Dieses Kleid war in der Schneiderei ihr Baby gewesen – als einziges auch nur annähernd »schönes« Stück der gesamten Kollektion war es ihr als Glücksfall und Geschenk zugleich erschienen. Für den heutigen Abend hatte Nola dem grimmig guckenden Model eine Kette aus Patronenhülsen um den Hals geschlungen, aber das tat der Schönheit des Kleids keinen Abbruch. Mit weit mehr Liebe und Detailversessenheit als eigentlich verlangt, hatte Lucy Jo den Schnitt mit akribischer Sorgfalt angefertigt und tagelang Überstunden gemacht, damit es auch wirklich perfekt wurde. Und nun wurde es von den hellsten Sternen am Modehimmel bewundert.
»Machst du deine Arbeit oder guckst du dir die Show an?« Urplötzlich war Clarissa hinter Lucy Jo aufgetaucht. Noch ehe die irgendetwas zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte, brach im ganzen Saal tosender Applaus los, und als die beiden jungen Frauen aufschauten, sahen sie gerade noch, wie das letzte Model den Laufsteg verließ. Nur einen Wimpernschlag später fiel ein einzelner, gleißend heller Scheinwerferstrahl auf die strahlende Nola Sinclair.
»Ach du lieber Himmel«, hörte Lucy Jo Clarissa neben ihr stöhnen. » Champagner. Sie hat mir gesagt, ich soll welchen besorgen, aber gleichzeitig hat sie mir noch zehn andere Sachen diktiert …«
Mit erhobenen Händen bat Nola um Ruhe. Nicht gerade üblich, dass ein Designer nach der Show eine Rede hielt – aber Nola, dachte Lucy Jo, nahm jede Gelegenheit wahr, sich
in den Mittelpunkt zu stellen. »Danke. Danke euch allen, dass ihr heute Abend gekommen seid, um mit mir auf die kommenden Feiertage und meine Kollektion anzustoßen.« Womit Nola ein, zwei Schritte zur Seite machte und in die sie umgebende Dunkelheit lächelte.
»Sie bringt mich um«, zischte Clarissa entsetzt.
Und damit begannen die schlimmsten zwei Minuten in Lucy Jos Leben. Alles fing damit an, dass ihr Clarissa einen energischen Schubs gab und die Order: »Champagner. Nola. Jetzt!
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