Mit Jockl nach Santiago
ein Unikat. Türme und Tordurchgänge, dazwischen mal ein verwilderter Garten, die Ruine einer Kapelle, raffiniert gemauerte Eckkonstruktionen bei manchen Häusern, die den rechten Winkel als langweilige Spielart der Geometrie tunlichst zu vermeiden wissen - all das und noch mehr stimmt den keuchenden Berganwanderer für die große Gipfelüberraschung ein. Der letzte Schritt durch die Porte de l’Horloge eröffnet mit einem Schlag die stolze Pracht gotischer Stadthäuser mit ihren herrlichen Spitzbogenfenstern und einem geradezu glanzvollen Fassadenschmuck. Platzmangel auf der Bergkuppe tut der räumlichen Großzügigkeit der Bauten keinen Abbruch. Auf dem kleinen Hauptplatz zwischen Bürgermeisteramt - dem schönsten Gebäude der Stadt - und der Kirche gegenüber zwängt sich die in Bastiden übliche, überdachte Markthalle mit einem über 100 m tiefen Brunnen. Hier hält niemand mehr Markt ab und verkauft Obst, Gemüse, Eier oder ungerupfte Hühner. Vielmehr avancierte die Halle im täglichen Touristenrun zu einem Freiluftcafé. Im Zentrum des Geschehens nippt man, geschützt vor himmlischen Ergüssen und blendender Sonne, am preisgesteigertem Nachmittagskaffee und gibt sich, angesichts umzingelnder gotischer Vielfalt, Träumereien hin, die sich in einem schutzumwallten Cordes ansiedeln, als die Stadt eine Propagandahochburg katharischen Glaubens war und hinter ihren Befestigungen zahlreiche Abtrünnige Zuflucht nahmen. Einer Legende zufolge sollen die Bürger von Cordes drei Inquisitoren kurzerhand in einen Brunnen geworfen haben, um sie an ihrer schrecklichen Amtsausführung zu hindern. Heute vermißt man das beherzte Eingreifen der Einwohner, wenn man in einem Geschäft von einem Buskontingent fettleibiger Kaffeefahrt-Tanten an den Türsturz geplättet wird. Ungeachtet dessen hat Cordes unsere uneingeschränkte Sympathie errungen und uns von neuem bewiesen, daß der Reiz gotischer Profanbauten in nichts jenem kirchlicher Bauwerke nachsteht.
Die Rückfahrt erhellt uns eine hinter leichter Diesigkeit verborgene Sonne, die spätestens in Albi von gräulichen Nebeln für den Rest des Tages ausgeknipst wird.
XI. s’Laub foit scho oba!
Rund 115 Fahrstunden: Midi-Pyrénées - Languedoc-Roussillon - Auvergne - Rhône-Alpes - Bourgogne - Franche-Comté - Elsaß
Der Abschied vom sonnigen Albi fällt uns nicht leicht, und wir spielen mit dem Gedanken, noch einen Tag dranzuhängen, allein um uns nochmals an der Kathedrale sattzusehen. Was heißen würde, wir müßten zum Camp zurück und alles, was wir zwei Stunden zuvor mit einiger Murrigkeit in die Kiste gepfercht haben - auch die neuen Errungenschaften unseres gestrigen Einkaufs - wieder herausreißen. Also dann doch lieber weiterfahren. Und was würde sich von Albi aus besser dafür anbieten, als das Tam-Tal, das wir östlich der Stadt nach dem Vorort Saint-Juery zum Leitfaden unserer Route wählen.
Runter von der Hauptstraße und hinein in die sonntagsträge Friedlichkeit einer undramatischen Flußlandschaft entlang des ansehnlich breiten Tarn. Doch erst nach dem 965 m langen Tunnel von Puech-Mergou, einem grobbehauenen und nur schummrig beleuchteten Felsdurchbruch, den wir jodelnd, kreischend und hupend in eine Geisterbahn verwandeln, umfangt uns die Abgeschiedenheit des Tales zur Gänze. Der Ort Ambialet, Höhepunkt unserer Etappe im wörtlichen Sinn, möbelt mit seiner einmaligen Lage auf einem Felsen in einer Flußschleife des Tarn die seit Kilometern seichte Beschaulichkeit etwas auf. Zwei einsame Kanuten treiben mit der Strömung bedächtig flußabwärts; nichts deutet mehr auf eine trubelige Saison, die der Tarn als begehrtes Gewässer für Paddler und Kanuten alljährlich über sich ergehen lassen muß. Das Tal gähnt hier geradezu unter einer ersten Herbstmüdigkeit. Warmes Licht durchdringt die Mischwälder am Ufer, das Laub noch zu grün, um Farbe in die Landschaft zu bringen, doch schon zu matt, um unser Gemüt daran zu erfrischen. In der reglos klaren Luft klingen die Geräusche verfremdet, selbst kleinste Steinchen unter unseren Schritten knirschen weit vernehmlicher als sonst. Daß das Tal nicht restlos lärmgereinigt in einen Dornröschenschlaf hinüberdöst, dafür sorgen schon wir und auch, daß die Luft zumindest hinter uns einiges an Klarheit verliert. Jockl qualmt heute wie eine alte Diesellok. Keine Ahnung, was ihn zu solchen Rauchschwaden veranlaßt. Vielleicht reagiert er auf die gestrige Raserei nach Cordes noch leicht
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