Mit Jockl nach Santiago
blaue Himmel stimmt uns ebenso zu gut-launig wie das freundliche »Bonjour!« der mütterlichen Madame in Kittelschürze, die uns den Kaffee heranzittert. Halbe Ewigkeiten könnte ich in meiner Croissant-Suppe rühren und dabei die Dorfbewohner beobachten, wie sie ohne Eile ihren täglichen Geschäften und Erledigungen nachgehen, sich zu einem kleinen Plausch finden, im Vorbeigehen Grüße austauschen oder die Boulangerie mit goldbraunen Brotstangen verlassen. Zeit muß man haben, dann gerät die harmloseste Beobachtung unter Umständen zu einer kleinen Geschichte. Nur - wer hat heutzutage schon Zeit? Wie oft beneiden uns Leute um unsere »viele« Zeit, so eine aufwendige, monatelange Reise durchführen zu können. Wolfgang läßt sich in dieser Hinsicht auf keine langen Diskussionen ein und erklärt jedem der Schwärmer klipp und klar, daß für ihn wie für uns jeder Tag 24 Stunden habe, womit sich jedes weitere Wort erübrigt. Nicht die fehlende Zeit hindert diese Menschen an längeren Unternehmungen sondern ein Nichtverzichtenkönnen und -wollen auf soziale Sicherheit und Bequemlichkeit, sowie der Umfang unzähliger, meist selbst angezettelter Verpflichtungen, die natürlich die Zeit »stehlen«. Niemand fragt uns nach den Einschränkungen, die unserer Reise vorausgingen und den Konsequenzen, die im nachhinein unweigerlich auf uns warten werden. Jeder ist geblendet von unserem Zeitreichtum. Nicht wenige Bekannte neiden uns den Mammut-Urlaub; und gerade sie werden es sein, die sich nach unserer Heimkehr auf den Karrierestühlen ihrer Büros sitzend ins Fäustchen lachen, während wir uns am Arbeitsamt die Füße in den Bauch stehen. Man kann nicht alles haben - jeder weiß das - nur, ab und zu sollte man sich belohnen für diesen Aberwitz, ein Mensch sein zu müssen.
Wir lassen die Zeit den verrinnenden Minuten und Stunden über und brechen auf. Ein kurzes Bergauf als Ortsausfahrt, ein letzter Blick hinunter zum See, dann gehören wir wieder der Einsamkeit einer nach wie vor beeindruckenden Landschaft. Erst eine Stunde später treffen wir auf eine Ortschaft - Les Canabières - ein Dorf ganz nach unserem Geschmack, ohne Extravaganzen und Großartigkeiten, doch von äußerst gewinnendem Charme. Im Schutz einer erhöht gelegenen spitztürmigen Kirche schart sich die Dörflichkeit einiger massiv gebauter Häuser, ein jedes geputzt, aufgeräumt und von seinen Bewohnen sichtbar umsorgt. Ebenso gepflegt die bunten Gärten, in denen Kürbisse wie fehlgeschossene Spielbälle in den Beeten liegen, Tomaten an hölzernen Spalieren zu letzter Röte reifen, Kohl und Salat in strengen Reihen eine Ordnung suggerieren im Kunterbunt an Gemüse und Pflanzen, Rosen, Dahlien, Malven, Gartenhimbeeren und abgeernteten Johannisbeersträuchern. Bei besonders reichbestellten und üppig blühenden Gärten hängen wir sehnsüchtig an den Zäunen wie aus dem Paradies Ausgesperrte. Und wie wir so zu einem Gartenhäuschen starren, vor dem sich eine Frau über Flickarbeiten beugt, sehe ich mich mit einem Mal beim Erbeerpflücken und Karottenziehen im Garten meiner Großmutter wieder, und allmählich dämmert es mir, warum mich dieser Ort so anrührt - er erinnert mich an Sonnensommertage in meiner Kindheit! Ausgerechnet jetzt schlägt es vom Kirchturm 12.00 Uhr, und das folgende Mittagsgeläut verteilt einen lang vermißten Bimmel-Bammel-Frieden über das Land. Wieder taucht die Vergangenheit vor mir auf und mit ihr erneut meine Großmutter, die Mesnerin, wie sie am Glockenstrang der kleinen Filialkirche zieht und wir beide uns am Ende des Geläutes zum Stoppen des Glockenschwunges mit vereintem Gewicht an das Seil hängen, wobei ich wohl eher den Anblick eines lianeschaukelnden Schimpansen abgebe, als den einer Jungmesnerin.
Ein mittäglicher Spaziergang durch das Dorf hält nicht nur Erinnerungen für uns bereit, sondern konfrontiert uns auch mit einer sehr verlockenden Gegenwart. Hinter geöffneten Fenstern spielen sich hörbare Mittagsszenarien ab: Geschirrklappern, Gläserklirren, auf den Tisch gesetzte Schüsseln, Besteckscheppern auf Porzellan, knapp gehaltene Sätze, ein Lachen, Türenschlagen - aaah und dann dieser verboten-köstliche Bratenduft, er verwirrt unsere Ölsardinen-Sinne komplett. Sehr, sehr lecker, sehr sympathisch dieses Canabieres!
Vier Kilometer weiter lebt Bouloc im Flair seiner Vergangenheit, nicht ganz so adrett wie die Nachbargemeinde, jedoch genauso vergessen wirkend. Hinter dem Ort beginnt die Auffahrt zu einem
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