Mit offenen Karten
nicht wissen. Es war eben Pech.»
«Was habe ich denn gesagt?»
«Ich glaube, Sie werden sich kaum erinnern. Es war nur die Art, wie Sie es dargestellt haben. Sie sagten etwas über einen Unglücksfall und Gift.»
«Wirklich?»
«Ich wusste, Sie würden sich wahrscheinlich nicht erinnern. Anne hatte nämlich einmal ein schauderhaftes Erlebnis. Sie war in einem Haus, wo eine Frau irrtümlich Gift nahm – es war, glaube ich, ein Färbemittel –, sie hat es mit etwas anderem verwechselt. Und die Frau starb. Und natürlich war es ein schrecklicher Schock für Anne. Sie kann es nicht ertragen, daran zu denken oder davon zu sprechen. Ihre Äußerung hat sie daran erinnert, und natürlich ist sie wie immer in solchen Fällen ganz steif und eigentümlich geworden. Ich habe gesehen, dass Sie es bemerkt haben, und konnte vor ihr nichts sagen. Aber ich wollte Sie wissen lassen, dass es nicht war, was Sie dachten. Sie war nicht undankbar.»
Mrs Oliver blickte in Rhodas gerötetes, erregtes Gesicht. Sie sagte langsam: «Ich verstehe.»
«Anne ist übersensibel», erklärte Rhoda. «Und sie will den Dingen nicht ins Gesicht sehen. Wenn etwas sie aufgeregt hat, will sie es einfach totschweigen, obwohl das nichts nützt – wenigstens finde ich es. Die Dinge bleiben, wie sie sind – ob man nun darüber spricht oder nicht. Es ist nur eine Flucht, sie zu verleugnen. Ich würde mich lieber mit den Dingen auseinandersetzen, selbst wenn es noch so peinlich wäre.»
«Ah», erwiderte Mrs Oliver gelassen, «Sie sind ja auch eine Kämpfernatur, meine Liebe. Ihre Anne ist das nicht.»
Rhoda errötete. «Anne ist ein Schatz.»
Mrs Oliver lächelte: «Das habe ich nicht bestritten. Ich habe nur gesagt, dass sie nicht Ihre besondere Art Courage hat.»
Sie seufzte und sagte dann scheinbar zusammenhanglos: «Glauben Sie an die Wahrheit, meine Liebe, oder nicht?»
«Natürlich glaube ich an die Wahrheit», antwortete Rhoda und machte große Augen.
«Ja, das sagen Sie so – aber vielleicht haben Sie nicht darüber nachgedacht. Die Wahrheit tut manchmal weh – und zerstört die Illusionen.»
«Ich bin trotzdem für die Wahrheit», behauptete Rhoda.
«Ich auch, aber ich weiß nicht, ob wir weise sind.»
Rhoda sagte ernst:
«Bitte, sagen Sie Anne nicht, was ich Ihnen erzählt habe. Sie würde sich ärgern.»
«Ich würde nicht im Traum daran denken. Ist das lange her?»
«Ungefähr vier Jahre. Es ist sonderbar, wie den Leuten immer wieder dieselben Sachen passieren. Ich hatte eine Tante, die immer in Schiffskatastrophen geriet. Und jetzt ist Anne in zwei dramatische Todesfälle verwickelt – nur ist natürlich der zweite viel ärger. Mord ist etwas Grauenhaftes, nicht wahr?»
«Ja, das ist es.»
In diesem Augenblick kamen der heiße Kaffee und die Toasts. Rhoda aß und trank mit sichtlichem Genuss. Es war eine Sensation für sie, eine Tête-à-tête-Mahlzeit mit einer so berühmten Frau einzunehmen.
Als sie fertig waren, stand sie auf und sagte:
«Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr gestört. Würden Sie – ich meine, wäre es Ihnen nicht zu lästig, wenn ich Ihnen eines Ihrer Bücher zum Signieren schicken würde?»
Mrs Oliver lachte.
«Oh, ich weiß etwas Besseres.» Sie öffnete einen Schrank am anderen Ende des Zimmers. «Welches möchten Sie gern? Mir gefällt ‹Die Affäre des zweiten Goldfisches› am besten. Es ist kein so fürchterlicher Kitsch wie die anderen. Möchten Sie es?»
Ein wenig schockiert, eine Autorin so über die Kinder ihrer Feder sprechen zu hören, bejahte Rhoda eifrig. Mrs Oliver nahm das Buch, öffnete es, schrieb ihren Namen mit einem unübertrefflichen Schnörkel hinein und reichte es Rhoda.
«So.»
«Danke vielmals. Ich habe mich herrlich unterhalten. Waren Sie bestimmt nicht böse, dass ich gekommen bin?»
«Ich hatte es mir gewünscht», sagte Mrs Oliver.
Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu:
«Sie sind ein liebes Kind. Adieu. Geben Sie Acht auf sich!»
«Warum habe ich das jetzt gesagt!», murmelte sie zu sich selbst, als die Tür sich hinter ihrem Gast schloss.
Sie schüttelte den Kopf, fuhr sich durchs Haar und kehrte zu Sven Hjersons genialen Rückschlüssen anhand der Kastanien- und Zwiebelfüllung zurück.
18
M rs Lorrimer trat aus einer Haustür in der Harley Street. Sie stand eine Minute auf dem Treppenabsatz und stieg dann langsam die Stufen hinunter. Sie hatte einen sonderbaren Gesichtsausdruck – ein Gemisch von grimmiger Entschlossenheit und seltsamer
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