Mit offenen Karten
eine kleine Pause. Poirot ließ sie anderthalb Minuten währen und sagte dann, wie zu sich selbst:
«Ja, ich sehe es vor mir. Der sich dahinschlängelnde Fluss, die tropische Nacht, das Summen der Insekten – der starke, tapfere Mann – die schöne Frau…»
Mrs Luxmore seufzte.
«Mein Mann war natürlich um viele Jahre älter als ich. Ich heiratete ihn als halbes Kind, ohne recht zu wissen, was ich tat…»
Poirot schüttelte traurig den Kopf.
«Ich weiß. Ich weiß. Die alte Geschichte.»
«Keiner von uns wollte zugeben, was geschah», fuhr Mrs Luxmore fort. «John Despard sagte nie ein Wort. Er war die Ehrenhaftigkeit selbst.»
«Aber eine Frau weiß immer», soufflierte Poirot.
«Wie Recht Sie haben… ja, eine Frau weiß immer… aber ich gab ihm nie zu verstehen, dass ich es wusste. Wir blieben bis zum bitteren Ende Major Despard und Mrs Luxmore füreinander… Wir waren entschlossen, ein ehrliches Spiel zu spielen.»
Sie schwieg, in Bewunderung ihrer edlen Haltung versunken.
«Ja», murmelte Poirot. «Wie sagte einer Ihrer Dichter so schön? ‹Ich könnte dich nicht so sehr lieben, Liebste, liebt ich die Ehre nicht noch mehr.›»
«Diese Worte könnten für uns geschrieben sein», flüsterte Mrs Luxmore. «Was immer auch kommen mochte, wir waren beide entschlossen, nie das schicksalsschwere Wort auszusprechen.»
«Und dann…», drängte Poirot.
«Jene grauenhafte Nacht.» Mrs Luxmore schauderte.
«Ja?»
«Ich vermute, sie mussten sich gestritten haben – John und Timothy, meine ich. Ich kam aus meinem Zelt… ich kam aus meinem Zelt…»
«Ja ja?»
Mrs Luxmores Augen wurden groß und dunkel. Sie sah die Szene, als würde sie sich vor ihr wiederholen.
«Ich kam aus meinem Zelt», wiederholte sie. «John und Timothy waren – oh!» Sie schauderte. «Ich kann mich nicht mehr genau an alles erinnern. Ich warf mich zwischen sie… Ich sagte: ‹Nein – nein, es ist nicht wahr!› Timothy wollte nicht hören, er bedrohte John; John musste schießen – in Notwehr. Ah!!» Sie stieß einen Schrei aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. «Er war tot – sofort – ins Herz getroffen.»
«Ein furchtbarer Augenblick für Sie, Madame.»
«Ich werde ihn nie vergessen. John war so edel. Er wollte sich unbedingt stellen. Ich wollte nichts davon hören. Wir diskutierten die ganze Nacht. ‹Mir zuliebe›, sagte ich immer – endlich sah er es ein. Natürlich konnte er mich nicht büßen lassen. Der schreckliche Skandal! Denken Sie an die Schlagzeilen: Zwei Männer und eine Frau im Dschungel – Urinstinkte werden frei. » Sie fuhr fort: «Ich versuchte alles, um John zu überzeugen. Endlich gab er nach. Die Träger hatten nichts gesehen oder gehört. Timothy hatte einen Fieberanfall gehabt. Wir sagten, er sei daran gestorben. Wir begruben ihn dort am Ufer des Amazonas.»
Ein tiefer, qualvoller Seufzer entrang sich ihr.
«Und dann zurück in die Zivilisation – um für immer voneinander zu scheiden.»
«Musste das sein, Madame?»
«Ja, ja. Der tote Timothy stand genauso zwischen uns wie der lebende – ja noch mehr. Wir sagten einander auf ewig Lebewohl. Ich begegne John Despard zuweilen – in der Welt draußen. Wir lächeln, wir sprechen höflich miteinander – niemand würde ahnen, dass je etwas zwischen uns war. Aber ich sehe in seinen Augen – und er in den meinen –, dass wir nie vergessen werden…»
Es entstand eine lange Kunstpause. Poirot respektierte den Aktschluss, indem er sie nicht unterbrach.
Mrs Luxmore nahm ihre Puderdose und puderte sich die Nase – der Bann war gebrochen. «Welche Tragödie», kommentierte Poirot, aber sein Ton war schon trockener.
«Sie sehen, Monsieur Poirot, dass man die Wahrheit nie erfahren darf», sagte Mrs Luxmore ernst.
«Es wäre peinlich…»
«Es wäre unmöglich. Dieser Freund, dieser Schriftsteller möchte doch sicher nicht das Leben einer völlig unschuldigen Frau zerstören?»
«Oder sogar einen völlig unschuldigen Mann an den Galgen bringen», murmelte Poirot.
«Sie sehen es so. Das macht mich glücklich. Er ist unschuldig. Ein Verbrechen aus Leidenschaft ist nicht wirklich ein Verbrechen, und auf jeden Fall war es Notwehr. Er musste schießen. Sie begreifen also, Monsieur Poirot, dass die Welt weiterhin glauben muss, Timothy sei an Tropenfieber gestorben.»
Poirot murmelte: «Schriftsteller sind zuweilen eigentümlich herzlos.»
«Ist Ihr Freund ein Frauenfeind? Will er sich an uns rächen? Das dürfen Sie nicht zulassen.
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