Mit reinem Gewissen
1978 muss er vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktreten. Nicht das schlechte Gewissen war ausschlaggebend, sondern die fehlende Gefolgschaft seiner Partei. Er ist nicht mehr das Leittier der baden-württembergischen CDU.
Hans Karl Filbinger gehört zu jener großen Gruppe erfolgreicher Nationalsozialisten, die in der Bundesrepublik fast nahtlos wieder auf politisch wichtige Posten gelangen. In der Restaurationszeit der 1950er Jahre in Westdeutschland wird nicht nach damaligen Vergehen und Missbrauch gefragt, es herrscht das große Verdrängen, um den Aufbau des Wirtschaftswunderlandes nicht zu gefährden. In Teilen der Justiz und der konservativen politischen Elite des Landes wird noch per Ideologie versucht, die NS-Diktatur in einen Rechtsstaat umzudeuten. Dies korrespondiert mit Filbingers Äußerung, sein Unrecht nicht einsehen zu wollen. Es gibt keinen, der ihn zur Rechenschaft zieht. Er und viele mit ihm verwischen die Grenzen zwischen nationalsozialistischem Unrechtsstaat und demokratischem Rechtsstaat. Erst mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 wird der Begriff der »nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« von einem maßgeblichen |114| Politiker öffentlich artikuliert. Daraus folgt unmissverständlich die Abgrenzung zwischen der Nazidiktatur und dem demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes mit seinem klaren Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten.
Filbinger ist einer von ungefähr 3000 Juristen, die vormals als Richter, Ankläger oder Rechtsberater in der Wehrmacht Dienst getan haben. Kein ehemaliger Nazirichter wurde je für seine Taten zur Rechenschaft gezogen, der im vorauseilenden Gehorsam die Todesstrafe verhängte. Auch nach dem Krieg ist kein Richter wegen eines Terrorurteils bestraft worden. Filbinger ist derjenige, der es nach Kriegsende am weitesteten gebracht hat. Er bleibt finanziell und sozial abgesichert, im Gegensatz zu all den Familien, die ihre Angehörigen durch den Krieg oder diktatorische Willkür verloren haben. Trotz seines Rücktrittes bezieht er bis zu seinem Tod eine üppgie Pension.
Fast zeitgleich mit Filbingers Rücktritt wird der Familie Gröger ein Einschreiben aus Norwegen zugestellt. Marie Lindgren hat genau wie Walters Mutter und Schwestern erst jetzt von seinem Tod und den genauen Umständen erfahren. Sie bietet an, ihnen ihre Geschichte mit dem Sohn bzw. Bruder zu erzählen. Reporter organisieren ein Treffen der Frauen.
So plötzlich wie der ganze Rummel über die Familie Gröger hereingebrochen ist, so plötzlich wird es auch wieder still um sie. Zurück bleiben verstörte, irritierte und in ihren Gefühlen verletzte Angehörige. Die Ruhe vor dem Rummel kehrt zwar wieder ein, und doch ist alles anders geworden. Die Schwestern nehmen all ihren Mut zusammen, treten immer wieder bei wichtigen Anlässen öffentlich gegen Filbinger auf und versuchen über Jahre, die Geschichte ihres Bruders in Erinnerung zu rufen.
Walter rief als Jugendlicher immer wieder aus: »Mensch, ich werde der Größte sein, einmal im Ring stehen, Mensch, was wäre das schön!« Walter konnte nie seine Träume verwirklichen. Er wurde nur 23 Jahre alt.
Was damals Unrecht war, kann heute nicht Recht sein.
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Peter Derleder
Die Erzählung »Unruhige Nacht« von Albrecht Goes Ein Zeugnis aus der Kriegsgerichtsbarkeit während des Nationalsozialismus
Der Dichter stammte aus dem schwäbischen evangelischen Pfarrhaus, aus Langenbeutingen im Hohenlohischen, Jahrgang 1908. Kindheit und Jugend waren nach dem frühen Tod der Mutter durch viele Ortswechsel geprägt. Er studierte Germanistik in Tübingen und Theologie in Berlin und wurde mit 22, also 1930, zum Pfarrer ordiniert. Seine erste Pfarrstelle erhielt er 1933. 1940 wurde er einberufen, zum Funker ausgebildet und dann im Osten als Kriegspfarrer eingesetzt, in Lazaretten und Gefängnissen. Seine erste große Erzählung »Unruhige Nacht« erschien 1950, als – in Thomas Manns Worten – der Blutgeruch über der in Deutschland während der NS-Zeit entstandenen Literatur hing. Seine Erzählung »Das Brandopfer« über die Judenverfolgung kam 1954 heraus. Vor ihrem Erscheinen gab Albrecht Goes seine Pfarrei auf und wurde freier Schriftsteller in Stuttgart, auch ein politischer, der die Wiederaufrüstung bekämpfte. Überwiegend war er Lyriker, mit stillen Gedichten in eher traditionellen Formen. In den 50er-Jahren, als er seine stärkste Wirkung erzielte,
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