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Mit reinem Gewissen

Mit reinem Gewissen

Titel: Mit reinem Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Pereis
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müssen. Im Westen ist nicht einer von ihnen bestraft worden. Die wenigen Richter, die in der DDR bestraft wurden, wurden 1992 mit dem sogenannten Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz alle rehabilitiert, die Urteile aufgehoben, auch wenn sie Dutzende oder Hunderte Todesurteile gefällt hatten. Wir waren dagegen bis zum Jahre 2002 vorbestraft!
    Anfang 1941 wurde ich zur Kriegsmarine eingezogen. Ich kam an die Kanalküste und später zur Hafenkompanie nach Bordeaux. Warum ich desertieren wollte – das ist die schwierigste Frage. Also ich kann mich erinnern, dass Hitler im Radio und in den Wochenschauen immer wieder »Lebensraum für das deutsche Volk im Osten« forderte und ich mich – ganz unpolitisch |326| wie ich war – gefragt habe, was das denn für die Menschen, die dort im Osten leben, bedeutet. Sollen diese nun vertrieben werden oder Schlimmeres?
    Die Wehrmacht hat die Länder Europas überfallen, eines nach dem anderen, auch die Sowjetunion. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Bis 1942 sahen wir in der Heimat und an der Front, auch in Frankreich, wo kein wirklicher Krieg war, die Bilder von Siegesmeldungen. Und wir sahen die Bilder der riesigen Kesselschlachten, wo Hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene auf freiem Feld eingekesselt waren. Bis Moskau – ein Blitzsieg sollte das ja werden, genau wie in Polen und Frankreich. Und dann kam der frühe und extrem kalte Winter 1941/42. Da erfroren auch deutsche Soldaten. In der Heimat liefen deshalb Kleidersammlungen, aber die liefen nur für deutsche Soldaten. Wir, mein Freund Kurt Oldenburg – auch aus Hamburg – und ich, haben uns gefragt, was ist mit den russischen Kriegsgefangenen, die mit leichter Kleidung auf freiem Feld, zu Hunderttausenden, zu Millionen, ausharren mussten? Die müssen ja alle erfrieren und verhungern! So war es dann auch. Wir haben uns gesagt: Also
diesen
Krieg wollen wir nicht mitmachen. Ich wollte vor allen Dingen kein Soldat sein, wollte keine Menschen töten, keine Verbrechen begehen. Ich wollte ganz einfach leben.
    Wir beide desertierten 1942, wurden an der Grenze zum unbesetzten Frankreich verhaftet und in Bordeaux zum Tode verurteilt. Sowohl bei der Vernehmung als auch in der Todeszelle wurden wir gefoltert, weil wir ihnen unsere Freunde und Fluchthelfer nicht verraten haben. Ich war zehn Monate in der Todeszelle. Tag und Nacht an Händen und Füßen gefesselt. Jeden Morgen, wenn die Wachen wechselten, dachte ich, jetzt holen die mich raus. Es war so ein Grauen! Es verfolgt mich bis heute. Warum sie uns gefesselt haben? Wir hatten mit Spaniern, wir sagten: Rotspanier, einen Ausbruchversuch geplant. Sie waren vor Franco, vor dem Krieg geflüchtet. Es waren etwa 90 Männer, auch Jungs dabei, von zehn, elf, zwölf Jahren. Dieser Ausbruchversuch ist aufgeflogen. Etwa drei Wochen später wurden die Angehörigen dieser spanischen Geiseln auf den |327| Gefängnishof gebracht. Und wir konnten durch die Gitter sehen, dass sie ihre Männer und Kinder in die Arme nahmen, schrieen und sie nicht loslassen wollten. Wir sahen Soldaten, die sie auseinander rissen, brutal, und die Geiseln und die Kinder, die wurden alle umgebracht.
    Beim Heer und bei der Luftwaffe wurden ca. 30 Prozent der Verurteilten begnadigt. Das hieß aber nicht, dass sie auch überlebten: Die meisten Begnadigten sind dann in KZs oder Straflagern umgekommen. Bei der Marine wurden im Allgemeinen, wohl vor dem Hintergrund, dass die Meutereien am Ende des Ersten Weltkriegs von der Marine kamen, nicht begnadigt. Und Dönitz – seit Januar 1943 Nachfolger von Großadmiral Raeder als Oberbefehlshaber der Marine, hat ganz klar gesagt und schriftlich festgelegt: Bei ihm wird kein Deserteur begnadigt.

    Großadmiral Raeder hat einem Geschäftsfreund meines Vaters, der sich für mich an seinen früheren Kameraden Raeder wandte, geantwortet, dass er sich durch persönliche Beziehungen nicht beeinflussen lasse. Er könne ihm aber mitteilen, dass er den jungen Baumann und den jungen Oldenburg begnadigt habe und es jetzt bei ihnen liege, dem Führer durch Mut und Tapferkeit zu beweisen, dass sie der Begnadigung würdig seien. Meine Schwester ist nach Berlin zum Marineministerium gefahren und hat das offiziell erfahren. Weil ich die Franzosen nicht verraten habe und weil wir einen Ausbruchversuch gemacht hatten, war noch gar nicht klar, ob neue Anklage erhoben werden sollte. Wir durften schreiben, meist einmal im Monat, manchmal auch öfters. Post empfangen durften wir auch,

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