Mit reinem Gewissen
Todeskandidaten angebotene und von diesem auch in Anspruch genommene Mitmenschlichkeit. Der den Erschießungsbefehl gibt, ein Theologe, ist von den Nazis sogar bewusst in der Mordmaschinerie zum Täter auserkoren. Der Hauptmann, der nach Stalingrad muss, trägt den Namen einer Familie, den man aus der deutschen Romantik kennt, Brentano. Und auch der Widerstandsgeist, der Flieger, der einen Fliegerhorst leitet, kann nichts Gegenwärtiges bewirken, sondern nur auf die große Abrechnung, aufs Konto, setzen.
Die Botschaft formuliert das Opfer selbst: Wer auch einmal |120| Mensch sein will, muss in diesem Krieg untergehen. Für Fedor Baranowski, der Name signalisiert schon die Stellung zwischen den Kulturen, tritt das Exekutionskommando nicht zum Schein an wie bei Fedor Dostojewski. Er kommt von unten, unehelich, ohne sicheren Familienrückhalt, steigt als Soldat erst einmal in die Ordnung des Heeres auf, wird Obergefreiter, ist tapfer und wird nach einer Verwundung im Hinterland zu jemand, der etwas gilt und auch die Liebe einer Ukrainerin und ihres Kindes gewinnen kann. Es ist wenig, was man über ihn erfährt, aus seiner Akte, psychologisch ist nichts vermittelt, was den Kuss auf den Mund des Kriegspfarrers in der Stunde der Todesnot vorbereitet.
Die Verurteilung wegen Geheimnisverrats durch Briefe erscheint äußerst fragwürdig und anfechtbar. Das Weglaufen aus der Strafkompanie ist aber nicht nur unerlaubte Entfernung von der Truppe, in der Absicht, sich zeitweilig dem Kriegsdienst zu entziehen, sondern nach dem Militärstrafgesetzbuch Fahnenflucht, das heißt mit der Absicht dauernder Entfernung. Die Subsumtion unter den Tatbestand der Fahnenflucht durch das Kriegsgericht war auch ohne Filbinger’schen Übereifer korrekt. Die Rechtsfolge, die Todesstrafe, die für den Überläufer vorgesehen war, war jedoch nicht zwingend, da Baranowskis Verbindung mit den Partisanen nicht geklärt war. In jedem Fall hat Fedor Baranowski den Krieg und sein Schicksal, wie seine Worte an den Pfarrer zeigen, mit dessen Hilfe verarbeitet. Er ist der Einzige, der seine Würde uneingeschränkt wahrt, die Theologen inbegriffen.
Die Kriegssituation wird knapp skizziert. Noch ist es nicht der Winter 1943 nach Stalingrad, der absolute Tiefpunkt der deutschen Geschichte, durch Kempowskis Briefsammlung »Echolot« dokumentiert. Aber die Lage ist schon jetzt verzweifelt. An der Ostfront wartet der Tod. Es regieren die Menschen, die es nicht geben dürfte. Bruder Eichmann, das war die Formel Heinar Kipphardts vom ewigen Versager, der zur Leitung der NS-Holocaust-Industrie aufsteigt, das Dunkle bezeichnend, das in allen Menschen lauert. Ein Mensch, den es nicht geben dürfte, ist die antizipierte Antwort von Albrecht Goes. Davon |121| gibt es in der Erzählung des Menschenfreundes Goes überraschend wenige. Und der schlimmste von ihnen ist seinerseits ein abgebrochener Theologe, dem erst die Nazis Bedeutung gegeben haben.
Wie es weitergehen wird, dafür gibt es die Stichworte zu den geschichtlichen Alternativen. Der Ich-Erzähler macht sich Gedanken darüber, wie nach dem durch Zoten und Kot geprägten Kriegsgeschwätz überhaupt langfristig eine Enkulturierung der Soldateska gelingen soll. Was wird sein, wenn Hitler in den Tartarus fährt? Der widerständige Flieger verweist auf Glucks »Orpheus und Eurydike«, wo im zweiten Akt der Chor der Dämonen am Eingang des Tartarus wartet, des Unterweltteils, wo die Strafen vollzogen werden an Tantalos, Sisyphos und Tityos, der Flieger denkt zusätzlich an Hitler, Goebbels und Himmler, die aber eigentlich keinen Platz neben Sisyphos verdienen. Der Ich-Erzähler selbst beschwört oft die deutsche Kultur, Beethoven, Brentano, Goethe. Aber der Faschismus, der nur ein einziges Mal beim Namen genannt wird, lässt ein schwerstgeschädigtes Deutschland zurück.
Die Schuldfrage wird berührt. Wir wollen überleben, um von all dem Schrecken zu berichten, sagen sich die Theologen. »Unsere Schuld ist, dass wir leben«, das klingt nach der Erbsünde, ist aber nur auf das Funktionieren im nationalsozialistischen Krieg zu beziehen. Es geht jeweils um individuelle Schuld. Wie der historische Verarbeitungsprozess sein wird? Wir wissen es inzwischen. Primär waren das Vergessen und Verdrängen, gegen die beide Goes angeschrieben hat. Eine Abrechnung war auf dieser Basis ausgeschlossen. Was die Alliierten nicht erledigt haben, hat die Bundesrepublik zuerst gar nicht und dann fragmentarisch und zu spät
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