Mit Sherlock Holmes durch Raum und Zeit 2
Haar und den großen, schimmernd braunen Augen ansah, vergaß ich völlig, daß ich noch immer die beiden schweren Koffer trug. Erst als wir einander vorgestellt wurden und sie amüsiert zu Boden schaute, begriff ich, welch närrische Gestalt ich abgab. Mit rotem Gesicht setzte ich die beiden Koffer ab und nahm ihre zarte Hand in die meine. Als ich sie küßte, roch ich den feinen Wohlgeruch eines besonders erfreulichen – und, wie ich eingestehen muß, aphrodisiakischen – Parfüms.
»Zweifellos haben Sie im Fernsehen Berichte über Frau Scharlachs vermißten Gatten gesehen oder in der Zeitung darüber gelesen?« sagte mein Partner. »Selbst wenn Sie nichts von seinem Verschwinden wissen, haben Sie doch sicher von diesem berühmten Künstler gehört?«
»Ich habe durchaus einige Kunstkenntnisse«, entgegnete ich kühl. Der Ton meiner Stimme spiegelte meine innere Kälte wider, den ersterbenden Glanz der Freude, ihr zu begegnen. Also war sie verheiratet! Ich hätte es wissen müssen, als ich ihren Ring sah. Doch ich war zu überwältigt gewesen, als daß er augenblicklich einen Eindruck bei mir hinterlassen hätte.
Alfred Scharlach war, wie meine Leser sicher wissen, ein wohlhabender Maler, der im vergangenen Jahrzehnt sehr berühmt geworden war. Ich persönlich hielt die Werke der sogenannten Fauve Mauve-Schule für einen greulichen Unsinn, der den gesunden Menschenverstand an der Nase herumführte. Ich hätte lieber die Originale der Katzenjammer Kids-Comic strips an den Wänden der Museen gesehen als irgendeins der verrückten Werke Scharlachs und seiner Kollegen. Doch wie fehlgeleitet sein künstlerischer Geschmack auch sein mochte, ein Auge für Frauen hatte er, fürwahr. Er hatte die wunderschöne Lisa Maria Mohrstein erst vor drei Jahren geheiratet. Und nun gab es Überlegungen, sie könne bereits Witwe sein.
Ein Gedanke, bei dem der warme Glanz zurückkehrte.
A. Scharlach war, wie ich mich erinnerte, an einem Maiabend vor zwei Monaten spazierengegangen und nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Zuerst hatte man befürchtet, er sei entführt worden. Doch da niemand eine Lösegeldforderung erhob, verwarf man diese Theorie wieder.
Als ich Ralph erzählte, was ich von dem Fall wußte, nickte er.
»Letzte Nacht hat es jedoch eine neue Entwicklung in dem Fall gegeben«, sagte er. »Und Frau Scharlach ist zu mir gekommen, weil sie höchst unzufrieden mit dem Fortschritt ist – oder besser dem Mangel daran –, den die Polizei gemacht hat. Frau Scharlach, bitte erzählen Sie Doktor Weißstein, was Sie mir erzählt haben.«
Sie bedachte mich mit einem Blick aus ihren dunkelbraunen, gleichzeitig jedoch hellen Augen und umriß mit einer Stimme, die so lieblich war wie ihr Blick – von ihrer Figur ganz zu schweigen – die Ereignisse des gestrigen Abends. Ralph, so fiel mir auf, saß mit aufwärts gerichtetem Kopf und gespitzten Ohren da. Ich wußte es damals nicht, doch er hatte sie gebeten, die Geschichte zu wiederholen, weil er noch einmal auf ihre Tonveränderungen achten wollte. Er konnte feine Töne ausmachen, die den weniger empfindlichen Ohren eines Menschen entgangen wären. »Ich kann versteckte Gefühle nicht nur riechen«, pflegte er oft zu sagen, »ich kann sie auch hören.«
»Gestern abend gegen sieben Uhr, als ich gerade ausgehen wollte…« sagte sie.
Mit wem? dachte ich und fühlte, wie die Eifersucht in meiner Brust brannte, obwohl ich wußte, daß ich kein Recht zu einem solchen Gefühl hatte.
»… rief mich Hauptkommissar Straße von der Hamburger Stadtpolizei an. Er sagte, er wollte mir etwas Wichtiges zeigen, und fragte mich, ob ich aufs Revier kommen könne. Ich bejahte natürlich und nahm ein Taxi in die Stadt. Dort führte mich der Hauptkommissar in ein Hinterzimmer und zeigte mir ein Gemälde. Ich war erstaunt. Ich hatte es zwar nie zuvor gesehen, aber ich wußte sofort, daß es sich um ein Werk meines Mannes handelte. Dazu bedurfte es nicht einmal seiner Signatur – die sich an der üblichen Stelle in der oberen rechten Ecke befand. Ich sagte dies dem Hauptkommissar und fuhr dann fort: ›Das kann nur bedeuten, daß Alfred noch lebt! Aber wo, zum Teufel, haben Sie dieses Bild her?‹
Er erwiderte, es sei der Polizei erst an diesem Morgen aufgefallen. Ein wohlhabender Kaufmann, Herr Lausitz, war in der Woche zuvor gestorben. Der Rechtsanwalt, der die Bestandsaufnahme seines Erbes durchführte, hatte das Gemälde in einem verschlossenen Raum in Lausitz’ Landsitz gefunden. Es
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