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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Beckenbodenübung über und führt dazu, auf zweifache Weise den Boden wieder zu spüren: »den Boden unter mir und den Boden in mir.« In solcher Doppelbödigkeit soll das Selbst fortan seinen Sinn finden.
Asketik des Atmens
    Ohne dabei das Atmen zu vergessen, das sich freilich bei jeder körperlichen Übung schon von selbst vertieft. Geatmet haben Menschen vermutlich schon immer, aber nicht immer auf dieselbe Weise: Das Flachatmen , das modernen Menschen zur zweiten Natur wird, löst das Schweratmen ab, das noch von der Last körperlicher Anstrengung zeugt. Über die absehbaren Folgen machte sich Nietzsche bereits im 19. Jahrhundert Gedanken: »Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach atmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon« ( Morgenröte ,462). Das Problem liegt jedoch vor allem darin, dass die Atmung als ein gewöhnlicher körperlicher Vorgang neben anderen erscheint, während sie in Wahrheit die Voraussetzung für alle anderen ist. Vergangene Zeiten bewahrten in ihren Begriffen, griechisch pneũma , lateinisch anima und spiritus für Atem und Lebenshauch, eine Auffassung von der Bedeutung des Vorgangs und ließen über das Körperliche hinaus auch die seelischen, geistigen und metaphysischen Dimensionen des Atmens anklingen, das Durchströmtwerden von seelischer Kraft, die Inspiration des Denkens und den Rückbezug der drei Ebenen auf einen göttlichen Hauch.
    Nüchtern betrachtet handelt es sich beim Ein- und Ausatmen allerdings nur um einen »Gasaustausch«, eine wechselseitige Durchdringung der inneren Ökologie des Körpers und äußeren Ökologie des Planeten. Mit der Aufnahme von Sauerstoff und der Abgabe von Kohlendioxyd wird Atmen zu einem ständigen Berühren der Atmosphäre und Berührtwerden durch sie. Dass die Zufuhr von Sauerstoff für das körperliche Selbst von existenzieller Bedeutung ist, erweist sich daran, dass die Steuerung des Prozesses im Hirnstamm angesiedelt ist, dem willentlichen Zugriff entzogen. Wurde antiken Kynikern nachgesagt, sie seien imstande, den Prozess willentlich zu unterbrechen und auf diese Weise sich selbst zu töten, so diente dies abseits allen Wahrheitsgehalts wohl vor allem einer Illustration ihrer Fähigkeit zur Selbstmächtigkeit. Gleichwohl ist der Grundrhythmus des Lebens, der für das Selbst als steter Wechsel von Weitung und Verengung seiner selbst erfahrbar ist, extrem variabel. Bei Angst und Schmerz wird der Atem und mit ihm das ganze Selbst regelrecht »abgeschnürt«, sodass Atemnot und Todesangst entsteht; umgekehrt weiten sich Atem und Selbst mit der Empfindung von Freude und Lust enorm zu einem großen Aufatmen und Durchatmen.
    Wenn das Selbst so sehr an die Art der Atmung gebunden ist, spricht alles für deren neue Aneignung, nicht etwa des Dass , dasvon selbst geschieht, sondern des Wie , das modifizierbar ist. Durch die bewusste Einübung des Wie sind in einer Asketik des Atmens die Ressourcen zu erweitern, die dem Atemprozess zu verdanken sind. Ist die Atmung verflacht, dann kann eine »Heilung«, wie Nietzsche schon wusste, »auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegenteils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages einmal stark und tief einzuatmen«, und dies »womöglich platt am Boden liegend«. All das unwillkürliche Dehnen und Strecken, das morgens nach dem Aufstehen, tagsüber als Reaktion auf Bewegungsmangel vollzogen wird, stellt bereits eine Übung zur Weitung und Vertiefung des Atmens dar. Eine Übung ist selbsttätig jedes Gehen, jedes intensive Riechen, ebenso das Bedürfnis nach dem tiefen Luftholen im Aufseufzen, das dem Selbst keine andere Möglichkeit mehr übrig lässt, als Atem zu schöpfen, vielleicht um etwas zu bewältigen, das verschwiegen bleibt, aber der Kraft bedarf.
    Die Übungen zielen darauf, den »Atemraum« zu erweitern, aus dem Kraft bezogen werden kann; ganze Lehren (vorweg Ilse Middendorf, Der erfahrbare Atem , 1984) leiten theoretisch und praktisch dazu an. Das bewusste körperliche Erleben macht den unbewussten Prozess in der Art und Weise seines Vollzugs verfügbar und ermöglicht, ihn zu variieren. Gezielt lässt sich der Sauerstoffstrom in verschiedene Regionen des Körpers lenken – eine Übung, mit der das Selbst

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