Mit sich selbst befreundet sein
darauf folgende Müdigkeit des Selbst. Dann erst wird aus der gesteigerten Anspannung wohltuende Entspannung.
Interessante Entdeckungen sind im Laufe der Behandlung zu machen: Da ist der empfindliche Nervus vagus , der vom Kopf bis in den Bauchraum reicht, wo er sich strahlenförmig zum »Sonnengeflecht« verzweigt. Wenn die Eingeweide sprechen, dann hört zuerst dieser Nerv ihre Stimmen, auch die kaum wahrnehmbaren; daher das »vage« Gefühl »aus dem Bauch heraus«, das so oft empfunden wird. Da ist ferner der Musculus trapezius , der vom untersten Brustwirbel aus trapezförmig über beide Schultern bis zum Hinterkopf verläuft. Er ist es, der den Kopf aufrecht hält und sich bei anstrengender geistiger Tätigkeit regelmäßig verspannt. So wird nun also an mir gezogen, gedrückt, gepresst, gezerrt, geknetet und gestreichelt, um die bewusste Aufmerksamkeit auf Körperstellen wie diese zu lenken, die zu lange nur mit Ignoranz bedacht worden sind und sich mit Schmerzen dafür rächen. Eines Tages aber rührt die Therapeutin an einen Muskelstrang im Gesäß: Ein Aufschrei, denn schon die bloße Berührung schmerzt! Die diffusen Rückenschmerzen, deren Ursache und Herkunft kaum auszumachen war – hier ist ihr Brandherd, fast birnengroß und mit etwas Phantasie »birnenförmig«, lateinisch piriformis : Anatomiebücher führen den vollkommen unscheinbaren Musculus piriformis vor Augen, der sich von beiden Seiten des Steißbeins zum Hüftgelenk spannt. Dass er bei Tieren nur in verkümmerter Form zu finden ist, verweist auf seine bedeutsame Rolle im evolutionären Prozess, seine mögliche Beteiligung an der Herkulesaufgabe der Aufrichtung des menschlichen Körpers, am »aufrechten Gang«. Zu dessen Stabilisierung ermöglicht Piriformis die Drehung der Beine nach außen, die so genannte»Außenrotation«. Eigentlich, so dachte ich, rotiere ich schon genug, nun fehlt es mir also auch noch an »Außenrotation«!
Piriformis ist der Muskel, der leicht zu übersehen ist, wie alle, die stillschweigend ihre Arbeit tun. Im Machtspiel der Muskeln, von denen das denkende Subjekt nichts ahnt, verzichtet er souverän auf irgendwelche Dominanz. Im Zweifelsfall ist er der Klügere, der nachgibt und dekontrahiert, wenn andere Muskeln sich eine Kontraktion in den Kopf gesetzt haben. Was ihm dafür von Seiten des bewussten Selbst widerfährt, ist allerdings Missachtung, schlichte Unkenntnis der Zusammenhänge, blanke Ignoranz. Selbst wenn er wehtut, reden alle vom Rücken, vom Piriformis redet keiner. Was würde es für die innere Ausgeglichenheit bedeuten, wenn mehr asketische Arbeit auf seine Pflege verwendet würde? Gerechtigkeit für Piriformis! Aber mit welchen Übungen? Die Schreibtischarbeit ist jedenfalls sein schlimmster Feind: Sie vernachlässigt ihn, sie bringt ihn, je intellektueller, desto schlimmer, vollkommen zur Erschlaffung. Piriformis verkümmert, wird im Sitzen zerquetscht, wird negiert und annihiliert, als hätte es ihn nie gegeben. Auffällig sind geschlechtliche Unterschiede: Frauen, aus welchen Gründen auch immer, zeigen häufig eine vorbildliche Piriformis-Performance: Becken nach hinten gekippt, bewegliche Hüften, nuancierte Außenrotation. Männer hingegen bevorzugen die Extreme: Becken und Hüften steif, Abstellwinkel der Beine 45 Grad und mehr, und dies dauerhaft, womit Piriformis stets das Äußerste abverlangt wird. Berühmt für überspannte Außenrotation ist Charlie Chaplin, Abstellwinkel 90 Grad, vermutlich systematisch antrainiert. Damit ist immerhin klar, welche Übung Piriformis stärkt und ihm Gerechtigkeit widerfahren lässt: wenigstens einmal morgens quer durch die Wohnung im »Charlie-Chaplin-Walk«. Dies nur zur Stärkung der Kontraktion, Dekontraktion dann im Schneidersitz. Und sollte die Wirksamkeit auch begrenzt sein, so haben doch diejenigen, die gelegentlich dabei zusehen, ihre helle Freude daran.
Boden gewinnen
Jede körperliche Übung ist schon aufgrund einer Entlastung von den Mühen des Fühlens und Denkens auch eine Übung für Seele und Geist. So wohltuend kann dies sein, dass die cartesianische Hochschätzung des Denkens gegenüber allem Körperlichen sich noch ins Gegenteil verkehrt und das Selbst in unreflektierter Körperlichkeit sein Heil sucht. Für den pfleglichen Umgang mit dem Körper genügen maßvollere Übungen. Ist ein Problem des Denkens nicht die Vertikale , die aufrechte Haltung, in der es vorzugsweise betrieben wird? Aber das Denken muss nicht immer »oben
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