Mit sich selbst befreundet sein
Hunger, aber wie jede Befreiung führt auch diese nicht von selbst schon zu Formender Freiheit : Von den Nahrungsmitteln, die im Übermaß zur Verfügung stehen, wird zunächst im selben Übermaß, wahllos und unreflektiert, Gebrauch gemacht, mit all den Konsequenzen, die sich daraus für den Körper ergeben. In dieser Situation hat das Selbst eine erste, grundlegende Wahl zu treffen, für die drei Optionen zur Verfügung stehen: Sich gänzlich ignorant gegen Ernährungsfragen zu verhalten, sich nicht um irgendwelche Kenntnisse und Erkenntnisse zu bekümmern, dies aber bewusst zu tun. Oder mehr oder weniger bewusst dem Impuls der Angst zu folgen, sich hysterisch von allen nur denkbaren Gefahrenquellen fern zu halten und fraglos von der epistemischen Ebene ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse zur ethischen Ebene des Handelns überzugehen. Schließlich aber sich selbst eingehender mit Ernährungsfragen zu befassen, um möglichst klug, differenziert und wählerisch damit umzugehen; auf optativer Grundlage auch Wissen je nach Plausibilität heranzuziehen, es jedoch nicht umstandslos zur normativen Grundlage des Handelns zu machen: Die größere Aufmerksamkeit auf Fragen der Ernährung erfordert nicht, Wissenschaft mit definitiver Gewissheit zu verwechseln. Auf mögliche Risiken antwortet eine Vorsicht, die nicht von der Aufhebbarkeit sämtlicher Risiken träumt.
Den Problemen und Gefahren der Intimität kann eine Ethik der Ernährung Rechnung tragen. Sie berücksichtigt die verschiedensten Aspekte der Ernährung für Selbst und Welt und verknüpft die ästhetische Ethik des Selbstverhältnisses mit einer des Weltverhältnisses. Alle Aspekte der Klugheit : Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht, sind hier am Platz. Sich um Klugheit zu bemühen heißt abzuwägen, einzuschätzen, Sensibilität zu gewinnen, ein Gespür zu entwickeln, verfügbare Kenntnisse heranzuziehen und sich um eine Aufklärung von Zusammenhängen zu bemühen, so weit das momentane Wissen reichen kann: Was sind die Grundlagen der Ernährung, welche Möglichkeiten habe ich und welche Wahl treffe ich? Was ist das, was ich zu mir nehme; was braucht mein Körper, was nicht?Welche Produkte bergen welche Inhaltsstoffe, und wie werden sie produziert, konserviert, transportiert, konsumiert? Das Selbst konzentriert seine Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auf das gesamte Umfeld der zu treffenden Wahl, um mit allen relevanten Aspekten vertraut zu werden. Das reicht von der vorbereitenden Sensibilisierung für Fragen der Ernährung bis hin zur globalisierenden Betrachtungsweise ihrer Konsequenzen: Denn die Produkte, die zur Ernährung herangezogen werden, haben erwünschte oder unerwünschte Konsequenzen nicht nur im Körper des Selbst, sondern auch am Ort ihrer Herkunft und auf dem Weg zum Selbst. Mit ihrer Aufnahme in sich geht das Selbst eine intime Beziehung auch zu ihrer Herkunft ein, und die Bedingungen von Produktion und Transport, die sozialen Bedingungen inhumaner Arbeitsverhältnisse oder die ökologischen Bedingungen einer Freisetzung von Schadstoffen wirken auf direkte oder indirekte Weise wiederum auf die Lebensbedingungen des Selbst zurück.
Ihre konkrete Ausformung erfährt die Ethik der Ernährung in einer erneuerten Diätetik , die nicht primär darin besteht, »Diät zu halten«, sondern, dem zugrunde liegenden griechischen Begriff díaita entsprechend, eine bestimmte Lebensweise einzurichten, beruhend auf der Wahl des Selbst. Von besonderem Interesse bei der Einrichtung des Lebens sind die Rhythmen von Ruhe und Bewegung, von Wachen und Schlafen, und in diesem Rahmen erst die Einzelfragen des Essens und Trinkens – und welche Rolle den erotischen Lüsten, den aphrodísia , zugemessen wird, die seit alters her zur körperlich-seelisch-geistigen Nahrung im Rahmen einer Lebensweise beitragen. Von Bedeutung ist die Haltung , mit der gegessen und getrunken wird; entscheidend ist, ob Essen und Trinken genossen oder lediglich aus Vernunftgründen »dem Körper zugeführt« werden. Eine Frage der Haltung ist, ob das Selbst sich mit »schnellem Essen« ( Fast Food ) abspeisen lässt oder die Alternative des »langsamen Essens« ( Slow Food ) bevorzugt; die Wahl dazwischen trifft allein das Selbst, das sich dieFrage stellt: Was bedeutet es für mich, beim Essen zu verweilen, dem eigenen Körper die Muße zu gönnen, das Essen zu genießen oder eben nicht? Die Antwort kann es für sich erspüren, indem es darauf achtet, welche Art des Essens
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