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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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seine innere Aufmerksamkeit zu steuern lernt, ausgerichtet etwa auf ignorierte und vernachlässigte Teile des Körpers, die fühlbar aufleben: Hände, einzelne Finger, Fingerspitzen, Zehen, Zehenspitzen, Beckenboden etc. Keine Willensanstrengung soll damit verbunden sein, sondern ein »Kommenlassen« des Atems und sein Strömenlassen in die jeweilige Richtung. Mit all den Übungen ist allmählich die Art der Atmung ausfindig zu machen, die dem eigenen Körper gemäß ist, mit dem Eigenrhythmus, der ohne bewusste Anstrengungvon selbst geschieht und dem das Selbst sich ganz überlassen kann, in völligem Vertrauen auf das Element, das den gesamten Körper durchströmt. »Mit langem Atem« zu leben, zu handeln und zu lassen heißt dann, auf die Regeneration vertrauen zu dürfen, die sich im Atmen von selbst vollzieht und eine Kontinuität über lange Zeit hinweg ermöglicht.
    Offenbar führt das Atmen dem Körper Lebenskraft zu, Kraft, die eingeatmet werden kann und durchaus biochemisch zu erklären, vor allem aber lebenspraktisch zu erfahren ist. Daher das »Atemholen« vor einer großen Anstrengung, auch das »Atemschöpfen« nach einer Verausgabung. Es scheint, als hätten fernöstliche Lebensauffassungen mehr als westliche ein Wissen von dieser Kraft bewahrt. Demzufolge strömt der Atem, die Energie oder Lebenskraft, chinesisch Chi bzw. Qi , entlang von Meridianen durch den Körper, tritt an bestimmten Stellen ein und an anderen wieder aus, sodass ein ganzes Netzwerk von Punkten zur Verfügung steht, die gezielt mit Akupunktur und Akupressur zu bearbeiten sind, um eine stockende Energie, die den Körper anfällig für Krankheiten macht, zu stimulieren und wieder in Fluss zu bringen. So ungeklärt die Funktionsweise dieser Techniken sein mag, so unbestreitbar ist ihr Funktionieren. Alltäglich ist der Energiefluss mit Tai Chi , einer Mischung aus Gymnastik, Atmung und Meditation, anzuregen und auszubalancieren, verbunden mit einer gestischen Erziehung seiner selbst. Auch Qi Gong meint das beharrliche Üben der Lebenskraft und umfasst Körperhaltungen, Bewegungen, Atemübungen und geistige Übungen, deren Traditionen bis in vorchristliche Zeit zurückreichen und letzten Endes der Kultivierung und »Pflege des Lebens«, chinesisch Yangsheng , dienen. Alle westliche und östliche Asketik des Atmens und der Bewegung aber mündet in die Gelassenheit, die mit dem ruhigen Atmen im Eigenrhythmus eine Selbstverständlichkeit erzeugt, in der das Selbst sich zu Hause fühlen kann. Um nun auch der Ernährung einige Aufmerksamkeit zu widmen.
Ethik der Ernährung, erneuerte Diätetik
    Lange Zeit konnten Fragen der Ernährung als unphilosophisch gelten. Das »reine Denken« mit Produkten der »ausgebreiteten Welt« zu nähren, schien so vernachlässigenswert zu sein wie die Versorgung mit frischem Sauerstoff: undenkbar, Welt so tief in sich aufzunehmen. Nietzsche hingegen hielt »die Frage der Ernährung « für bedeutsamer fürs Leben als etwa theologische Fragen: Das »Heil der Menschheit« hänge daran, er selbst habe die Gegenprobe gemacht, wenn auch aus blanker Unkenntnis, als er zur Zeit seines Schopenhauer-Studiums den Willen zum Leben sehr ernsthaft »durch Leipziger Küche« verneinte ( Ecce Homo , »Warum ich so klug bin«). Wie es auch immer um das »Heil« bestellt sein mag: Zumindest erscheint die Frage der Ernährung als sinnvolles Objekt der Sorge des Selbst für sich, um sich mit sich zu befreunden und ein bejahenswertes Leben zu realisieren. Wenn wirklich, wie es heißt, die Liebe durch den Magen geht, dann gilt dies auch für die Liebe zu sich selbst. Die Ernährung ist der Ausdruck dieser Liebe, der intimste Akt, den das Selbst tagtäglich mit sich vollzieht – intimer als die zeitweilige innige Berührung eines anderen beim erotischen Akt, denn es geht um die dauerhafte Verschmelzung des Selbst mit dem, was es »zu sich nimmt«. Stoffe und Materialien nimmt es tief in sich auf, sie durchwandern den Körper von oben nach unten, sondern ihre Substanzen ab und vermischen sich mit den Säften des Körpers.
    Es gehört zu den Besonderheiten der Lebensführung in moderner Zeit, dass Fragen der Ernährung von jedem einzelnen Selbst neu zu entscheiden sind, nachdem traditionelle, konventionelle und religiöse Antworten darauf an Verbindlichkeit verloren haben: Die moderne Freiheit durchquert den Magen des Selbst. Eine historische Errungenschaft dieser Freiheit ist die weitgehende Befreiung moderner Gesellschaften vom

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