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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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eindrucksvolle Weise Michel de Montaigne in seinen Essais , die er zu schreiben begann, nachdem er sich am 28. Februar 1571 mit Vollendung des 38. Lebensjahres von den politischen Geschäften in einen Turm seines Schlosses zurückgezogen hatte, um sich fortan nur noch sich selbst zu widmen: Jeder kleinen Regung in sich lässt er ihr Recht widerfahren und findet so zu einer Selbstmächtigkeit, die ein ausdrücklicher Verzicht auf Herrschaft über sich ist. Einen eigenen Essay (I, 39) widmet er allein der Einsamkeit: »Hier müssen wir unser tägliches Gespräch mit uns selbst führen«.
    In der Einsamkeit entsteht das Werk des Lebens. Daher begibtNietzsche sich 1885 in die »vollständige Einsamkeit«, von der seine Briefe in diesem Jahr künden: nicht etwa fern von aller Welt, sondern mitten in der Stadt Nizza. Er, der Denker der Einsamkeit schlechthin, in höchstem Maße jedoch auch ihr Praktikant, erfährt die gesamte Widersprüchlichkeit der Einsamkeit in moderner Zeit, ihren »Abgrund«, der sich nun auftut. Endlich will er sich vollkommen befreien, nicht nur von aller Gesellschaft, sondern auch von einem gewissen Herrn Professor Nietzsche: »Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an!« Nietzsche, der kein Herr mehr sein will, hat keinen festen Ort in der Welt, er lebt nicht in der Zeit, er verkehrt mit niemandem mehr und nur noch zwangsläufig mit sich: So führt die Einsamkeit, die er sich ersehnte, allerdings zu einer unerträglichen Form der Existenz. Die gesamte Skala zwischen willentlicher und unwillentlicher, zeitweiliger und vollständiger, beglückender und entsetzlicher Einsamkeit misst er aus. Was er dieser Zeit trotz allem verdankt, ist der Blick von außen, den er gewinnt, die Fähigkeit, das gesamte Leben, auch das eigene, von sehr ferne zu sehen: Frei zu werden von allem und schließlich auch von sich, wird zum Signum der »freien Geister«. In dieser Zeit entsteht sein Werk Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), mit dem er die »Freunde der Einsamkeit « anspricht, über die bloße Befreiung von allem hinaus noch einen Schritt weiter zu gehen zur Formgebung der Freiheit, »zu einer eigenen Gesetzgebung«, denn die ist das Werk derer, die »nicht bloß freie Geister« sind, sondern zu »Artisten des Lebens« werden; die »letzten Stoiker«. Sie erträumt Nietzsche sich als Weggefährten, denn »im Grunde«, so bekennt er am Ende des Jahres der Einsamkeit 1885, »bin ich ganz und gar nicht für Einsamkeit gemacht«.
Kunst der Stille, Formen des Schweigens
    Die Tür hinter sich zu schließen. Endlich allein mit sich zu sein. Vielleicht sind andere noch im Raum, aber jeder ist allein mit sich. Die Geräusche von draußen dringen wie durch einen Filter herein. Das Pochen hinter der Stirn beruhigt sich allmählich. Jedes Detail am Selbst und seiner Umgebung wird nun aufmerksam wahrgenommen. Das linke Augenlid zuckt. Eine Glocke schlägt, aber die Weite, die sich in der Stille auftut, relativiert alle Zeit, auch die Zeit der eigenen Endlichkeit. Der Blick öffnet sich über den Tag und das eigene Leben hinaus. Unsagbar, ob dies Realität ist oder Imagination, aber das ist wohl auch nicht wichtig, wichtig ist allein, dass es erfahrbar ist. Meditieren, still werden, »in sich gehen«, ein stummes Gespräch mit sich selbst führen, hören, was in sich und darum herum vor sich geht: Im Schweigen ist die Seele ganz bei sich, sammelt ihre Gefühle und Worte, ohne sie schon im Diskurs zu zerstreuen. Im Schweigen lernt sie, was Sprechen ist und was sie selbst sagen will; daher die philosophische Übung des Schweigens ( siopé ) schon in der Schule des Pythagoras im 6./5. Jahrhundert v. Chr. – Die leiseren Stimmen im Selbst beginnen nun zu sprechen, die sich lange zurückgehalten haben oder nicht gehört worden sind, während andere Stimmen schreiend ihr alltägliches Geschäft erledigten. Nichts scheint schwerer zu sein als zu schweigen, nichts lustvoller als sich zu äußern. Aber »nichts ist groß, das nicht zugleich auch still wäre«, meinte Seneca ( Vom Zorn , I, 21). Um ihre kleine Begrenztheit wissen die lauten Stimmen insgeheim selbst: Das ist der Grund für ihre Lautstärke. Die leiseren Stimmen dagegen sind liiert mit der unendlichen Weite, die ohne diese Stunden der Stille bitter zu entbehren wäre. Das ist die Kunst der Stille: ihr Raum zu geben, ihn aufzusuchen, ihn selbst herzustellen – durch Schweigen. Einen umfassenderen Grund wieder fühlbar zu

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