Mit sich selbst befreundet sein
machen, darin liegt das Glück der Stille; das Selbst muss sie nur gewähren lassen für einen Moment.
Wenn sie zu plötzlich kommt, stürzt die Stille auf das Selbst herab wie ein Meteorit und bringt es augenblicklich zur Explosion. Bruchstückweise fliegen ihm die inneren Stimmen um die Ohren: Alle schreien wild durcheinander, und im ohrenbetäubenden Lärm ist nichts mehr zu hören. Ganze Galaxien von Gedanken beginnen sich im Kopf zu drehen, und das Selbst weiß nicht mehr, was es ist und wer es war. Es kann froh sein, wenn es überlebt und seine Sprache wieder findet, um über diese Erfahrung zu sprechen – und vor dem nächsten Problem zu stehen: Wer über das Schweigen sprechen will, muss es brechen; Grundproblem jeder Rede über das Schweigen. Was im Schweigen im schwebenden Status der Möglichkeit bleibt, muss sich im definierten Status wirklicher Sprache in die Begrenztheit fügen. Die Sprache ist nicht in der Lage, die Fülle dessen zu tragen, was im Schweigen präsent ist; das Selbst weiß es in dem Moment, in dem es spricht, und es kennt die Gründe dafür, die nicht veränderbar sind: Die Sprache ist ein Kind der Zeit, oder sie stellt die Zeit als eine Aufeinanderfolge von Momenten erst her. Jedes Wort ist ein Moment, und jedes gesprochene Wort ist schon Vergangenheit, wenn es die Sehnsucht nach einer neuen Gegenwart weckt. Im Schweigen aber scheint die Zeit stillzustehen. Es bewahrt »den Sinn«, die Fülle der Bezüge und Zusammenhänge, und legt sie nicht auseinander wie die Sprache, schon gar nicht in der Struktur der Sukzession, erst recht nicht mithilfe von Regeln der Syntax; vielmehr bleiben sie komprimiert in ihrer Intensität, undifferenziert in ihrer Komplexität, ohne Einschränkung und Verlust: Aus diesem Grund schweigen so gerne die Liebenden, und derselbe Grund erschwert so sehr die »Beziehungsgespräche«, die auf der Suche nach der verlorenen Liebe sind.
Aber es ist ein altes Vorurteil, dass das Schweigen der Gegensatz zum Sprechen sei: Das Sprechen selbst wird vielmehr von einem Schweigen durchherrscht, von all dem, was es nicht sagt, während es doch spricht; hinter vielen Worten hält sich das Ungesagte listig verborgen. So interessant wie die Gründe, die genanntwerden, sind andere, die im selben Atemzug verschwiegen werden. Das Schweigen wiederum kann sehr vielsagend sein, es kann »mehr sagen als tausend Worte«. »Hier ruht der, der alles gesagt hat und der doch niemals sprach«, lautet die Inschrift auf dem Grab von Jean Gaspard Deburau (Jan Kaspar Dvorjak, 1796--1846), dem größten aller Pierrots, auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Keineswegs werden im Schweigen die Grenzen der Kommunikation erreicht, vielmehr werden sie überschritten: Im Schweigen, und vielleicht erst wirklich in ihm, lässt sich mit anderen kommunizieren, denn es schafft den offenen Raum, der nicht von einem Einzelnen und seiner Rede allein, auch nicht nur von einer Sprache und der Gebundenheit an ihre Laute besetzt ist. Ebenso kann Schweigen jedoch ein Anschweigen sein, ein feindseliges Schweigen, oder ein Verschweigen , ein Verbergen der wahren Verhältnisse, ein Verdrängen des Vergehens und Verbrechens im Schweigen darüber. Der, dem etwas verschwiegen wird, wird damit auf seine Unterlegenheit verwiesen. Das Schweigen kann verunsichern und Furcht entstehen lassen. Die Erfindung der kritischen Öffentlichkeit ist eine Antwort darauf: Sie versucht zur Sprache zu bringen, was gerne verschwiegen worden wäre, und sie kann verhindern, dass diejenigen, die über das Schweigen gebieten, in aller Heimlichkeit tun, was ihnen beliebt. Das Schweigen lässt sich brechen, indem das Wort ergriffen wird.
Lebenskunst heißt, über die Optionen des Sprechens wie des Schweigens zu verfügen. Herrscht das Reden alleine, geraten diejenigen ins Abseits, die das Schweigen vorziehen: Wer sich nicht artikuliert, existiert nicht. Stets alles zu sagen, beweist nur eine Geschwätzigkeit, die nicht an sich halten kann: Vertrauenswürdig erscheint, wer auch zu schweigen weiß, und diejenigen, die sich schweigend verstehen, wissen um ihre Zusammengehörigkeit. Nur das Selbst kann sich um das richtige Maß des Rückzugs in die Stille und das genau bemessene Maß des Schweigens bemühen. Unter den vielfältigen Formen des Schweigens trifft es seine Wahl, wann, wie lange, worüber, gegenüber wem, in welcherSituation, mit welcher Intensität geschwiegen werden soll. Ein Schweigen in seinem Inneren ist das existenzielle
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