Mit sich selbst befreundet sein
Lektüre ganz so, wie es sich auch verliebt: plötzlich, brüsk, mitten hinein. Es verliert den Kopf dabei und weiß nicht mehr, wie ihm geschieht. Wie jede Lust ist auch die des Lesens gewalttätig und exzessiv: Der Kopf ist nicht mehr von den Seiten weg zu bekommen, eine Genickstarre ist wahrscheinlicher als ein einziges Hochblicken. Eigentlich wollte man der Faszination nur ein paar Schritte weit folgen, aber ehe man sich’s versieht, ist man schon zu weit gegangen. Die scheinbar kargen Buchstaben erwecken die überströmenden Leidenschaften zum Leben und schreiben sich dem Leib des Selbst ein, der diese Prägung nicht mehr vergisst. Wenn es in der Lebenskunst um einen maßvollen Gebrauch der Lüste geht, dann zweifellos auch bei dieser Lust, die in maßloser Weise aufdie Penetration der unschuldigen, nur leicht mit Druckerfarbe geschwärzten weißen Seiten aus ist. Im zweiten seiner Briefe an Lucilius über Ethik warnte Seneca schon davor, es zu übertreiben: »Überfluss an Büchern, Verstimmung des Geistes«.
Die Lektüre ist, wie das Schreiben, wie das Gespräch, eine Form von geistiger Berührung , ein Berühren und Berührtwerden von Gedanken, Vorstellungen, Träumen und Ideen, verbunden mit der sinnlichen Berührung beim Zur-Hand-Nehmen des Buches und dem Umblättern der Seiten. Die Berührung macht das Lesen zur Lebenskunst, zur Kunst des Selbst , sich selbst herzustellen und zu gestalten. Vom Text, den es berührt und von dem es berührt wird, lässt das Selbst sich subjektivieren. Es glaubt eine Geschichte zu lesen und findet und erfindet dabei in Wahrheit sich selbst. In ihm lebt die Geschichte auf, die erzählte und die eigene, die es auf dem Umweg über die Erzählung selbst zu erzählen beginnt, die Geschichte des Lebens, die sich in der Lektüre zu fügen vermag. Die Schrift regiert und dirigiert ihren Leser, indem sie ihn mit der verführerischen Klarheit der Buchstaben durch den unabsehbar weiten, weißen Raum der Möglichkeiten führt. Der Buchstabe in seiner nackten Existenz, von der sich noch nicht sicher sagen lässt, ob ein Zeichen mit Bedeutung daraus wird, ist der Schatten, der sich in einer Welt aus Licht abzeichnet und die Konturen hervorbringt, an denen das Selbst sich orientieren kann. Man mag skeptisch sein, ob das Lesen die wahre Bedeutung der Zeichen zu entziffern vermag und ob es so etwas wie »wahre Bedeutung« überhaupt gibt, aber das ist jetzt unerheblich. Lesen findet statt, die Zeichen werden gedeutet, und in ihrer Konstellation findet und erfindet das Subjekt sich und seinen Weg. Es wird allmählich selbst zu einer Ansammlung von Zeichen, die es in sich aufgenommen hat und deren Anordnung es ständig revidiert und reformuliert. Das übliche Drama der Beziehungen spielt sich auch in der Beziehung zwischen Selbst und Zeichen ab: Das chaotische Spiel der ersten Begegnung, der Entfremdung, des Wiedererkennens, der Trennung,der Erinnerung, des Träumens von einer erneuten Begegnung. Die Splitter der Lektüre formen das Selbst, setzen es zusammen wie ein Mosaik, das bunteste Gebilde entsteht auf diese Weise.
Legere heißt aufnehmen, pflücken, ernten: Seit seiner Erfindung ist Lesen das Aufnehmen von Zeichen, die ein anderer an anderen Orten, zu anderen Zeiten, gesetzt hat; es bedeutet, eine Spur zu lesen und zu bedenken, was sie anrät. Im Zeichen verbirgt sich ein anderer, und Lesen heißt, dessen Stimme in sich sprechen zu lassen, über Raum und Zeit hinweg. Der andere spricht mit mir und lässt sich von mir Fragen stellen, antwortet ausweichend oder direkt, tanzt aufdringlich auf der Bühne der Buchseite oder versteckt sich verschämt zwischen den Zeilen. Was er in den Text niedergelegt und ihm eingeschrieben hat, sodass es ganz und gar vom Körper der Buchstaben repräsentiert wird, wird durch den Akt des Lesens vom Selbst als Zeichen wahrgenommen. Das Lesen ist ein Leben mit anderen, deren Stimmen im Text sprechen, und es kann bedeuten, eine Vielzahl anderer Stimmen in sich aufzunehmen. Die Stimmen beginnen im Selbst zu sprechen, und es muss nur Sorge dafür tragen, in ihrer Vielstimmigkeit nicht zu zerspringen. Ohnehin erreicht es den Punkt, an dem es nicht mehr zu unterscheiden weiß zwischen Zeichen und ganzen Sentenzen, die ihm selbst entstammen, und jenen, die es bei anderen gelesen und von ihnen übernommen hat. Nimmt es das Buch später wieder zur Hand, ist es überrascht, die »eigenen Sätze« darin zu finden. Und zugleich wird das Subjekt selbst zum Buch, das
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