Mit sich selbst befreundet sein
Worte fließen« – ein Glück, das so überwältigend sein kann, dass es den Einsatz jeder Mühe lohnt. Die Auflösung kann vom Geistigen ebenso wie vom Seelischen oder Körperlichen her gelingen; in jedem Fall ist dies eine Erfahrung fürs Leben: am »toten Punkt« anzukommen, zutiefst entzweit mit sich und der Welt, und immer wieder darüber hinwegzukommen, zutiefst einverstanden mit aller Welt und sich selbst. Leben und Tod verschmelzen unterschiedslos für den, der schreibt: nicht mehr zu wissen, was Leben, nicht was Tod ist, nur noch in der Schrift zu leben, die doch scheinbar leblos ist, in Wahrheit aber selbst dann noch weiter leben wird, wenn das Selbst dereinst nicht mehr existiert.
Die Schrift hat Konsequenzen für die Verfassung des Selbst und seine Beziehung zur Welt. Sie fixiert Wahrheit – und stellt sie wieder in Frage. Wer schreibt, gewinnt einen starken Eindruck von der Punktförmigkeit jeder Realität und der Fragwürdigkeit aller Äußerung . Die Wirklichkeit eines Phänomens erscheint zum Punkt zusammengeknäuelt, das Schreiben ist dann das Herauswickeln eines Fadens aus diesem Punkt, das Entwickeln einer Abfolge von Wörtern und Sätzen, die den Punktselbst nicht wiedergeben können – aber könnte deswegen etwa auf das Schreiben und Sprechen verzichtet werden? Aller Ausdruck bleibt hinter der Wirklichkeit zurück, die doch Ausdruck finden soll; was bleibt, ist eine Unruhe über die Dinge und den Aufbau der menschlichen Welt überhaupt, die sprachlich verfasst ist. Und zugleich staunt das Selbst beim Schreiben wie beim Sprechen über die Vielfalt der möglichen Bezüge, die sich herstellen lassen, und die zahllosen Perspektiven, unter denen die Dinge und die Welt zu sehen möglich ist. Das Selbst fühlt sich gedemütigt von der Undurchschaubarkeit der Zusammenhänge – um gelegentlich doch wieder einen Schlüssel zu ihrem Verständnis zu finden, es jedenfalls zu glauben und zu triumphieren.
Ein umfassendes Selbst entsteht in der Schrift, das mit dem jeweils aktuellen Selbst nur noch bedingt zu tun hat. Zum Selbst wird nun die Summe aller Selbstmomente durch die Zeit der Schrift hindurch, und die Quantität dieser Ansammlung schlägt um in die neue Qualität eines weiten, reichen, reflektierten, überlegten Selbst, dessen Momente der Verzweiflung nur noch als Farbtupfer im Gesamtbild erscheinen, während sie das je aktuelle Selbst gänzlich dominieren können. Nicht immer entstammt, was da geschrieben steht, den Reflexionen des jeweiligen Selbst. Die Schrift ist keineswegs nur ein Objekt des Selbst, sondern übernimmt selbst die Funktionen eines Subjekts, formuliert Fragen und gibt Antworten, verknüpft und verlagert den Diskurs auf überraschende Weise. Es scheint, als formulierten und fügten die Sätze sich bisweilen von selbst, sodass »der Autor« mit Fug und Recht behaupten kann: »Das habe ich nicht geschrieben.« Wer aber ist es, der schreibt? Vielleicht die Vielheit derer, die im Selbst wohnen und in der Schrift zu ihrer Kohärenz finden – sofern keine Transzendenz angenommen werden soll? Schreibt auch das technische Gerät an den Gedanken mit? Aber ja. Gerade eben bin ich dabei zu formulieren, dass das Leben des Bejahenswerten bedarf, da meldet sich ungefragt die programmierte Maschine zu Wort: Der Begriff des Bejahenswerten sei»nicht im Wörterbuch« zu finden, also unbekannt und unschreibbar. Stattdessen wird eine Alternative vorgeschlagen: Bejammernswertes , das Leben bedarf des Bejammernswerten. In der Tat, so ist es, warum bin ich nicht gleich selbst darauf gekommen! Die Lebenskunst kann sich nicht in der Suche nach Bejahenswertem erschöpfen, sie bedarf auch des Bejammernswerten, um dem negativen Pol des Lebens Rechnung zu tragen. Ja sagen und jammern können: Nur in dieser Spannweite findet das Leben wirklich zu seiner Erfüllung.
Lesen als Lebenskunst
Die geistige Sorge gilt der Produktion von Worten und Begriffen in der Schrift , ebenso ihrer Rezeption in der Lektüre . Mit jedem, der auch nur irgendeinen Roman liest, geschehen bemerkenswerte Dinge: Die Lektüre zieht ihn in ihren Bann, er verlässt seine gewohnte Welt, zugleich beginnt eine neue, virtuelle sich zu konstituieren, die nicht weniger Wirklichkeit für sich beansprucht als die wirkliche. Die gesamte umgebende Realität findet sich zur Disposition gestellt, das Selbst tritt in ein neues Leben ein, dem es sich hingibt, wie dies nur bei einem Verhältnis der Leidenschaft möglich ist. Es vertieft sich in die
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