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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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vielleicht ein anderer nun wiederum zu lesen versucht.
    Nach außen hin erweckt das Lesen den trügerischen Eindruck, eine Passivität zu sein. Aber es handelt sich, ebenso unscheinbar wie wirkungsvoll, um eine Aktivität , eine Praxis der Freiheit, sowohl im Sinne einer Befreiung von Gegebenem als auch einer Formgebung der Freiheit: Gleichsam beiläufig gewinnt das Selbst im Laufe der Lektüre Möglichkeiten zu seiner Gestaltung und nutzt sie unmerklich: Die Buchstaben und Zeichensagen, was das Selbst längst schon sagen wollte, und sagen zugleich noch etwas anderes – etwas, das das Selbst in Berührung mit dem Anderen bringt, sei die Erfahrung enttäuschend oder verheißungsvoll. Ein immenser Raum der Reflexion wird damit gewonnen: Angeregt durch die Lektüre, verweilt das Selbst im offenen Raum des Denkens auch dann noch, wenn das Buch längst schon auf seinen Schoß niedergesunken ist. Die gewonnene Distanz zu sich und zur umgebenden Welt erlaubt ihm das Nachdenken über sich und seine Verhältnisse, deren Kritik, ein Erträumen anderer Möglichkeiten, eine Veränderung seiner selbst. Darin liegt die Bedeutung der Belesenheit : Möglichkeiten des Lebens durch das Lesen erschließen und einen weiten Horizont des Denkens und Existierens gewinnen zu können, in dem Fragen und Antworten, Probleme und Lösungen sich erörtern lassen; in keinem Fall aber der Selbstverständlichkeit der Gegenwart verhaftet zu bleiben. Das Lesen knüpft ein weitläufiges Netz von Zusammenhängen, ein weit verzweigtes Wurzelwerk von Vorstellungen, innerhalb derer das Selbst sich frei bewegen, vielfältige Beziehungen zu anderen und Anderem herstellen und Antworten auf seine Fragen finden kann. Auf diese Weise wird das Selbst beeindruckt, geprägt, geschrieben von dem, was es liest: indem es sich darin wiederfindet oder sich fremd darin wird. Vom »Einfluss« ist dann die Rede, den ein Buch auf das Selbst und sein Leben ausgeübt hat. Von anderswoher kehrt das Selbst zu sich zurück und ist doch nicht mehr dasselbe. In der Einsamkeit oder Gemeinsamkeit, in der sie stattfindet, formt die Lektüre die gesamte Seinsweise des Selbst neu. Montaigne sieht daher im 16. Jahrhundert den Gewinn der Lektüre in der Übung, die eine Arbeit des Selbst an sich ist: »Die Bücher haben mir weniger zur Belehrung denn zur Übung gedient« ( Essais III, 12).
    Die Geschichte des Lesens verdeutlicht, auf welche Arten diese Übung vollzogen werden kann. Lesen meinte lange Zeit das gemeinsame , äußerliche Lesen , das aus der Antike stammt und durch die Zeiten hindurch in Klöstern gepflegt worden ist: einlautes Lesen mit sichtbarer Bewegung der Lippen und sinnlicher Erfahrung der Stimme, durch die der Text spricht und von außen auf das Selbst einwirkt. Die integrale Gesamtheit der Erfahrung scheint bei dieser leiblichen Lektüre auch eine nachhaltige geistige Berührung zu vermitteln. Leidenschaftlich involviert ist das Selbst jedoch bei der alternativen Form des individuellen , innerlichen Lesens , bei der es den Text geradezu inkarniert, sich darin formt und transformiert. Die Tätigkeit des Lesens richtet sich hier nicht nach außen und von dort auf das Selbst zurück, sondern wird im Inneren selbst umgewendet, eine Verinnerlichung und Vereinzelung des Lesens nur für sich selbst, in der stillen Stube und vielleicht noch in der Einsamkeit der Nacht. Auf schweigsame Weise ist dieses Lesen, bei dem das Selbst allein ist mit dem Text, über den es sich beugt, ein Schwelgen im Garten der Sinnlichkeit, mag es auch kognitiver bestimmt sein als die gemeinsame, äußerlich erfahrbare Lektüre. Historisch ist die Möglichkeit dazu eröffnet worden durch die Erfindung der Leerräume in der Schrift zwischen den ursprünglich nahtlos aneinander gereihten Wörtern, die gebetsmühlenartig wie eine Litanei heruntergeleiert werden konnten: Seither residiert das Schweigen im Raum zwischen den Wörtern und erlaubt dem Selbst, Wort für Wort still in sich aufzunehmen. Im Raum dazwischen kann das eigene Denken und Vorstellen, die eigene Interpretation des Geschriebenen sich entfalten. Möglicherweise ist dies der Spalt, in dem der Intellekt aufblüht, der dem intellegere , dem »Dazwischenlesen«, seinen Namen verdankt.
    So wird das Lesen zum stummen Murmeln, mit dem das Selbst die Zeichen verinnerlicht. Und doch meldet, wenn das Innerliche dermaßen privilegiert wird, das Äußerliche sich wieder zu Wort: Der Körper fordert sein Recht, verlangt nach Berührung,

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