Mit sich selbst befreundet sein
vorzugsweise im Modus der Selbstberührung. Die Hand fährt über die Stirn und durch die Haare, gedankenverloren zerkratzt sie die Haut. Der Blick schweift ab. Die Sinne wollen mitlesen: Eine Formulierung zergeht auf der Zunge, eine andere ist unverdaulichund verdient wieder ausgespuckt zu werden. Es hat keinen Sinn, still zu sitzen, man muss aufstehen, hin- und hergehen, das Gelesene wiederkäuen, es überdenken und inkorporieren. Die lectio ist nur die Grundlage der meditatio , die über das Gelesene hinausgeht, um zu ihm zurückzukommen und es auf vielfache Weise in Bezug zum Selbst zu setzen. Ein Spaziergang kann die geistige Berührung in körperliche Bewegung umsetzen, andernfalls geht der Text verloren, da er nirgendwo Halt findet und den Körper durchquert wie ein Reigen flüchtiger Teilchen. Die Bewegung im Rhythmus der Worte aber prägt sich der gesamten Gestalt ein und wird zum Bestandteil des Selbst, das sich davon nicht mehr zu unterscheiden weiß.
Das individuelle, innerliche Lesen tritt in der Neuzeit und Moderne seine Vorherrschaft an; seine allgemeine Verbreitung ist zwar eine neue Form des gemeinsamen Lesens, aber in individualisierter Form. Von der massenhaften Berührung der Subjekte mit der virtuellen Welt der Buchstaben erhoffen Aufklärer sich den Anstoß zu einer Veränderung der realen Welt, die Arbeit des Selbst an sich in der Lektüre wird zur Grundlage für die Erneuerung der Gesellschaft. Zugleich spaltet sich die innerliche Form der Lektüre jedoch auf in eine subjektive , die das Lesen weiterhin als Übung zur Formung des Subjekts begreift, diese Auswirkungen der Lektüre zumindest noch geschehen lässt, sowie eine objektive , für die das Buch nunmehr ein bloßes Objekt darstellt, von dem das Selbst nicht weiter berührt wird und zu dem es keinerlei engere Beziehung eingeht. Der Text wird zu einem Gegenstand, der analysiert, zerlegt und neu zusammengesetzt werden kann; er dient dem Abruf eines in ihm aufbewahrten Wissens, das kein Lebenwissen mehr, sondern ein objektives Wissen ist. Es handelt sich wohl um eine Fortentwicklung des scholastischen Lesens, das sich schon vom monastischen Lesen abgehoben hatte; daraus wird nun die distanzierte wissenschaftliche Lektüre, deren Bedeutung in der Zeit der Moderne inflationär anschwillt. Das Lesen ist kein Schritt mehr auf dem Weg zu Gott,kein Fenster mehr zur Welt, kein Schlüssel zum Anderen, keine Bildung mehr des Subjekts selbst. Aber eine Lektüre, die für das Selbst nichts bedeutet, es nicht berührt und nicht formiert, ist in jedem Sinne des Wortes sinnlos. Nietzsche spottete über diese Entwicklung und zog in Also sprach Zarathustra , »Vom Lesen und Schreiben«, sein eigenes Fazit: »Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken.«
Im Zuge der objektiven Art des Lesens verbreiten sich Techniken der punktuellen und kursorischen Lektüre, einzelne Stellen werden herausgegriffen, ohne auf den Fortgang des Textes zu achten; eine große Zahl von Texten kann auf diese Weise »verarbeitet« werden. Die intensive , wiederholende Lektüre ein und desselben Textes, wie sie für andere Zeiten typisch war, wird durch die extensive , fortschreitende Lektüre immer neuer und anderer Texte abgelöst: eine Widerspiegelung des Übergangs von der zyklischen zur linearen Zeitvorstellung, wie sie die Moderne auszeichnet. Einige Versuche, sich den Text doch wieder subjektiv anzueignen, sind in Angewohnheiten des Unterstreichens einzelner Sätze, des Glossierens und Marginalisierens noch kenntlich. Im ausgehenden 20. Jahrhundert bildet sich allerdings eine Technik aus, die es erlaubt, der Mühe der Lektüre gänzlich zu entgehen: das Kopieren , das dem Selbst das Gefühl vermittelt, den ersten Schritt bereits getan zu haben, die »restliche« Arbeit der sorgfältigen Lektüre würde jederzeit folgen können, faktisch bleibt dafür jedoch meist keine Zeit. Das ist die objektivste Art des Lesens, weder das Buch noch das Selbst werden dabei wirklich berührt, und doch bleibt der selbstgewisse Eindruck zurück, eine enorme Arbeit geleistet zu haben, denn schon nach einer halben Stunde am Kopiergerät ist das Selbst der Erschöpfung nahe, eine eindrucksvolle Kompensation der eigentlichen Arbeit an sich selbst.
Die objektive Art des Lesens dominiert auch noch den Gebrauch elektronischer Medien, denn deren virtueller Raum geht hervor aus dem Raum, in dem das lesende Subjekt sich schon seitlangem bewegt. Vielleicht sollte man nicht so sehr
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