Mit sich selbst befreundet sein
diese Definition wiedergeben zu müssen, bleibt nur »Leben« noch übrig, der Rest wird mitgedacht. Das ist die eine Hälfte des Prozesses, die andere besteht darin, dass der definierte Begriff seinerseits auf das Leben zurückwirkt, sodass das Leben zu einer Ableitung des Begriffes wird ( Deduktion ), bis letztlich nicht mehr klar ist, was zuerst da war, Begriff oder Leben. Die Wechselseitigkeit dieses Prozesses ist kaum aufzulösen, und so folgt der Begriff dem Leben, und das Leben dem Begriff. Das Leben ist eine Komödie? Dann entspricht ihm das Lachen am besten. Das Leben ist eine Tragödie? Dann ist das Weinen am ehesten angemessen. Das Leben ist ein Kampf? Dann sollte das Selbst sich dafür rüsten. Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss? Dann bietet es sich an, träge mitzufließen. Leben heißt glücklich zu sein? Dann wäre noch zu klären, was unter »Glück« verstanden werden soll. Glück ist das Positive und der Erfolg, die Maximierung von Lust und Eliminierung von Schmerz? Aber Leben heißt auch, unglücklich zu sein, und wenn schon glücklich, dann hat dies mit ausschließlicher Lust und aufgehobenem Schmerz womöglich wenig zu tun. Die jeweiligen Definitionen zeigen nur, wie unterschiedlich die Begriffe ausfallen können und welche Folgen fürs Leben dies jeweils hat. So abstrakt Begriffe auch erscheinen mögen, so konkret können ihre Auswirkungen sein, denn mit ihrer Hilfe wirkt das Denken auf die Existenz ein. Eine bewusste Lebensführung bedarf daher der Aufmerksamkeit auf die innere Logik der Begriffe, um sie aufzuspüren und gegebenenfalls, wenn sie zum Problem wird, umzuformulieren. Es gibt keinen Grund, sich einer herrschenden Auffassung von »Leben« zu unterwerfen, um ihr nur nachzuleben und, wenn ihr nicht Genüge getan werden kann, zu verzweifeln.
Droht damit nicht Beliebigkeit? Sind Begriffe nicht dazu da, eine Realität möglichst genau wiederzugeben? Zweifellos, aber sie halten sich nicht daran. Sinnvoll erscheint, jede Begriffsbildung an den Kriterien von Plausibilität und Evidenz, Nachvollziehbarkeit und Offensichtlichkeit zu messen, aber auch in diesen Kriterien bleiben subjektive Sichtweisen wirksam. So kommt es, dass unter einem Begriff wie »Leben«, jeder Verallgemeinerung zum Trotz, kaum zwei Menschen genau dasselbe verstehen. Nur das Wort bleibt dasselbe und täuscht über die unterschiedlichen Bedeutungen gänzlich hinweg. Missverständnisse und Enttäuschungen sind zu beklagen, könnten jedoch zum Anlass genommen werden, eine Klärung des je eigenen Begriffs in der Auseinandersetzung mit anderen und vor allem mit sich selbst vorzunehmen. »Einen Begriff von etwas zu haben«, heißt dann so viel wie: eine bewusste Auffassung von einer Sache und ihrer Bedeutung gewonnen zu haben und diese Sache von anderen unterscheiden zu können. Etwas wird fassbarer, »greifbarer« auf diese Weise: Ein Begriff vereinfacht das Vielfältige und macht es handhabbar, wenn auch zwangsläufig um den Preis der Kritik, dem Vielfältigen nicht gerecht zu werden. Sich klarer zu werden über den eigenen Begriff etwa des Lebens, ihn für sich selbst zu definieren, ermöglicht, diese Definition anderen mitteilen zu können, um sich über unterschiedliche Auffassungen zu verständigen, sofern es um Verständigung gehen soll.
Die Klärung von Begriffen und die Verständigung darüber mit sich selbst und anderen ist eine Schulung der Aufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit, trägt zur Klärung des Selbst und seines Verhältnisses zur Welt bei und dient auf diese Weise der Orientierung des Lebens . Ein Forum für diese Klärung bietet, da Begriffe das Handwerkszeug der Philosophen sind, traditionell die Philosophie, auch wenn der Zweck der Klärung im Verlaufe des Prozesses gelegentlich aus den Augen verloren wird. Medizin, Psychologie, Soziologie, Biologie haben die somatischen, psychischen, sozialen, ökologischen Strukturen des Menschseins imBlick, die Philosophie aber die Strukturen des Denkens , durch die all die Begriffe definiert sind, die ihrerseits das Menschsein prägen. Begriffe sind geformte Gedanken, und Gedanken »erzeugen den Menschen«, so Bettine von Arnim in ihrem Roman Die Günderode (1840). Philosophie kann dabei behilflich sein, die »objektive«, heteronome Definition eines Begriffes ausfindig zu machen, sie für sich selbst zu prüfen und gegebenenfalls »subjektiv«, autonom zu modifizieren oder neu zu fassen. So wird das Selbst zum Souverän seiner Begrifflichkeit. Es käme
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