Mit sich selbst befreundet sein
philosophische Lebensentwürfe, die im Laufe der Zeit aus der Besorgnis und dem Nachdenken über das Leben entstanden sind. Man hat es nicht mit »toten Texten« zu tun hat, wenn man diese alten Denker neu liest, die mit allzu moderner Geste als »überholt« abgetan werden. Schon ihre zeitliche Ferne ermöglicht den distanzierten Blick auf die Aktualität und das eigene Selbst und erleichtert die Besinnung auf den »Sinn«, die Zusammenhänge der Lebensphänomene, und ihre Bedeutung, ihre Gewichtigkeit. Aus guten Gründen hat die philosophía als »Liebe zur Weisheit«, als Verlangen nach Kenntnis des Wesentlichen fürs Leben die Zeiten überdauert. Einzelne Grundzüge antiker Philosophien lassen sich wieder aufgreifen, um der eigenen Lebenskunst Konturen zu verleihen: eine ausgeprägte Liebe zum Schönen aus der Philosophie Platons . Eine nie erlahmende Bereitschaft zur Reflexion aus der Schule des Aristoteles . Eine bemerkenswerte Freimütigkeit aus dem Kynismus des Diogenes . Eine wählerische Genussfähigkeit aus dem Garten Epikurs . Eine nachhaltige Skepsis aus der Tradition Pyrrhons . Eine unzerstörbare Unerschütterlichkeit aus dem Stoizismus etwa Senecas . Ergänztvielleicht durch die immer neue Bereitschaft zum Wagnis, zum Versuch aus der Essayistik eines Montaigne , der im 16. Jahrhundert die antike Philosophie in ihrem ganzen Reichtum an Lebensweisheit wieder entdeckt hat. Dies alles durchzogen von der Philosophie der Selbstsorge, des gekonnten Umgangs mit sich selbst, der zur Grundlage des Umgangs mit anderen und einer Sorge um sie wird; denn es ist augenfällig, dass das Bemühen um diese doppelte Sorge die meisten philosophischen Schulen in der Antike charakterisiert. Das könnte für das intellektuelle und philosophische Selbstverständnis in einer anderen Moderne wieder von Bedeutung sein.
Hilfestellung des Intellekts: Kynische, nicht zynische Lebenskunst
Da ist beispielsweise Johnny, der, den Mantel des Kynikers übergeworfen, nächtens durch die dreckigen Gassen Londons vagabundiert, ungepflegt, höchst intelligent, ein Meister des geschliffenen Worts, sarkastisch. Er schläft im hell erleuchteten, marmornen Eingangsbereich irgendeines Geschäftsgebäudes, das er eine »postmoderne Gaskammer« nennt, und führt tiefschürfende Gespräche mit dem Wachmann. Er erhebt Anklage gegen die Langeweile der Luxuswelt, ganz wie der antike Diogenes, und erwartet den Tod des Menschen, denn »die Party ist vorbei«. Da ist nichts, was vor seinen Augen Bestand haben könnte und worauf er nicht spucken würde; sein Anspruch ist gnadenlos bis zur Bösartigkeit, unerträglich. »Was ist, wenn Gott uns nur zu seiner Unterhaltung geschaffen hat – damit er etwas hat, worüber er lachen kann?« Einer, der noch übler drauf ist als er, und ohne jede Intelligenz, eine Kreatur, jagt ihn davon: »Verpiss dich, du Arsch!« Und er, der Kyniker, rühmt ihn zynisch für sein unüberhörbares Interesse am »sokratischen Dialog«.
Wie ein streunender Hund wird er getreten und geschlagen von den Gestalten der Nacht, die er bezichtigt, »ein öffentliches Nichts« zu veranstalten. Er treibt es mit »Sophie«, die ein Gruftieist, und verachtet sie doch wie jede andere Frau. Das ist das Einzige, was er, der Kyniker , mit dem Zyniker der Postmoderne gemeinsam hat, dem Yuppie Jeremy, der schnelle Autos fährt und kundtut, dass Aids eine echte Chance angesichts der Überbevölkerung der Erde sei: Dieser Erfolgsmensch, ein Karrierist, ist von einer unverschämten Direktheit wie der Kyniker, und doch erscheint seine Attitüde hohl und leer; ein arroganter Narziss, der winselt, wenn eine Frau ernsthafte Anstalten macht, ihm sein Glied abzuschneiden, mit dem er seine Gespielinnen, etwa die besagte Sophie, vorzugsweise zu sodomisieren beliebt. Unverschämt und schamlos bis zum Brechreiz sind sie beide, der Kyniker wie der Zyniker, aber der Kyniker klagt die soziale Unerträglichkeit noch an, während der Zyniker sie lebt und sogar auskostet. Man kann nicht behaupten, dass der Kyniker zu sehr um sich bekümmert wäre und nur sein eigenes Wohl im Auge hätte; dem Zyniker dagegen geht es um nichts anderes. Während der Zyniker das Nichts bis zur bitteren Neige leert, durchlebt der Kyniker die völlige Verzweiflung darüber – in ihm ist zumindest der Mensch noch erkennbar, auch wenn er nicht den Hauch einer Hoffnung mehr hat. Dabei sind sie beide noch so jung: Kyniker und Zyniker in der so genannten »Postmoderne«, im Film Naked von Mike
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