Mit sich selbst befreundet sein
weite Entfernungen hinweg wirksam sind. Es ist nicht »nachgewiesen«, dass es diese Schwingungen »gibt«, aber eine Lebenswahrheit sind sie doch, denn derjenige, an den im Moment gedacht wird, tritt gerade in diesem Moment in irgendeiner Weise in Erscheinung.
Ein neuronales Korrelat des Gespürs aufzuspüren, wäre ein Desiderat der Forschung; das »Bereitschaftspotenzial«, das einem bewussten Akt vorausgeht, ließe sich damit womöglich erklären. Neuronale Netze des Gespürs könnten geknüpft sein zwischen Arealen, die evolutionär angelegt und kulturell ausgefüllt wurden, erweitert um all die Verbindungen, die durch individuelle »Neurogenese« neu geschaffen werden, angeregt vom sozialen und ökologischen Umfeld. Nicht in einer spezifischen Hirnregion allein beheimatet, beruht das Gespür vermutlich auf einem Zusammenspiel auch zwischen sprachlichem und nichtsprachlichem Bewusstsein, ergänzt um ein außergewöhnlich reichhaltiges Gedächtnis, in dem endlos viele Situationen detailliert abgespeichert werden können. Seine Grundmuster könnten im grundlegenden Bewusstsein zu finden sein, das still, effizient und völlig unverzichtbar vor sich hin arbeitet, und zwar auch dann, wenn das bewusste Selbst schläft. Und alles, was im erweiterten Bewusstsein an Reflexion von Erfahrungen unternommen wird, könnte letztlich wieder dem grundlegenden Bewusstsein anvertraut werden, das nicht der bewussten Steuerung bedarf, Grundelement jeder Gelassenheit.
Gefühle sind daran beteiligt und gehen damit einher, aber das Gespür geht über Gefühle weit hinaus und bezieht auch nichtemotionale Informationen mit ein; es handelt sich um ein implizites Wissen (man hat etwas »immer so gespürt«), das jedoch intelligibel ist und zumindest im Nachhinein explizit gemacht werden kann. Intuition mag ein Bestandteil oder gar eine Grundlage des Gespürs sein; sie scheint jedoch gegeben zu sein oder auch nicht, auszuarbeiten jedenfalls ist sie nicht. Erlebt wird das Gespür oft als »innere Stimme«, und dies schon seit den Zeiten des Sokrates und dessen daimónion . Diese Stimme, verbal oder non-verbal, warnt oder spornt an, beruhigt oder beunruhigt, kündet von Möglichkeiten oder deren Fehlen, von Bedürfnissen oder Befürchtungen, von Ideen und Sehnsüchten ( virtuelles Gespür ). Sie nimmt Spuren im Gegenwärtigen wahr und erzählt von dem, was wirklich ist, auch wenn es kontrafaktisch erscheint, und von dem, was zu realisieren ist, also wirklich werden soll ( reales Gespür ). Sie berichtet von komplexen, vitalen Wechselwirkungen, die nur mit ausgeprägtem Spürsinn für die Feinheiten zu erfassen sind, und flüstert dem Selbst die präzise bemessene Antwort darauf zu ( exzellentes Gespür ). Und schließlich erspürt sie die »Leerstellen« des Selbst, spürt zu Unrecht Vergessenes wieder auf und hält das Selbst auf seinem Weg, dessen Markierungen im Kern-Selbst verankert sind – ohne Scheu vor Umund Abwegen, denn die innere Stimme führt stets zuverlässig auf den Hauptweg zurück ( poristisches Gespür ).
Auf das Gespür vertrauen zu können, sorgt dafür, mit wachsender Gelassenheit das Leben führen und auf Herausforderungenrasch antworten zu können. Es kann Orientierung bieten selbst in größter Komplexität, daher ist es unverzichtbar bei der Bewältigung der Grundsituation der Moderne. Allerdings kann das Gespür auch außerordentlich belastend sein, etwa wenn Schwierigkeiten, Engpässe und Unvereinbarkeiten vorausgespürt werden. Daher erscheint es klug, dem Gespür nicht alleinige Macht im Selbst zuzugestehen, nicht um es »ausschalten« zu wollen, sondern auf jener Distanz halten zu können, die es aushaltbar macht: Maß des Gespürs . Der Kunstgriff der Relativierung ist von Bedeutung, um all das, was von drückender Absolutheit zu sein scheint, wieder in eine menschliche Perspektive zu rücken. Die Relativierung ist eine Frage der Perspektive, die gewählt wird, vor allem in der Form des Blicks von außen auf sich selbst, auf die jeweilige Situation und die gesamte eigene Existenz. Dieser Blick ist zugleich unverzichtbar für das, was »Gewissen« genannt wird.
Von der Herstellung des Gewissens
Endlose Bemühungen in der Geschichte waren davon getragen, so etwas wie »Gewissen« zur Grundausstattung aller Menschen zu machen. Durch Erziehung und soziale Umwelt sollte es in die Heranwachsenden hineinwachsen, ihnen zur Selbstverständlichkeit einer Gewohnheit (zum neuronalen Muster) werden. Diejenigen, die ihm
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