Mit sich selbst befreundet sein
ein Korrektiv für die Regierung seiner selbst und die eigene Lebensführung zu verfügen; verzichtbar und kaum mehr wünschbar ist lediglich die Heteronomie des Vorgangs. Es ist ein Anliegen der geistigen Sorge, das Gewissen zu installieren, das überdas Selbst wacht wie ein Freund, mit demselben wohlwollenden Blick von außen, mit dem Freunde sich wechselseitig im Auge behalten; mit einer wie von außen kommenden »inneren Stimme«, die der inneren Stimme des Gespürs begegnet und doch nicht mit ihr identisch ist: Das Gespür hat seine Verankerung im Grundbewusstsein, das Gewissen im erweiterten Bewusstsein, auch wenn es häufig im »guten« oder »schlechten Gefühl«, das mit einem Tun oder Lassen einhergeht, fühlbar wird.
Somit lässt das Gewissen sich verstehen als ein Blick von außen auf das Gegebene , das geschehen ist, oder das Mögliche , das beabsichtigt wird, im Verhältnis zu den Gewissheiten des Selbst. Und dies keinesfalls erst bei anspruchsvollen moralischen Fragen des Umgangs mit anderen: Ist das eigene Tun oder Lassen gerecht; beeinträchtigt es andere in ihrer Freiheit, verletzt es sie sogar? Sondern bereits bei sämtlichen Fragen des Umgangs mit sich, der Selbstachtung und der Gerechtigkeit gegenüber sich selbst, beginnend bei harmlos erscheinenden alltäglichen Situationen, in denen das Gewissen am besten einzuüben ist, denn auch das Gewissen ist eine Frage der Asketik: Eine Ablenkung lockt, aber in welcher Relation steht sie zur Arbeit, die tun zu sollen das Selbst zu seinen Gewissheiten zählt? Zur Gewissensfrage wird jede Frage, die an die Gewissheiten des Selbst rührt und seine Integrität in Frage zu stellen droht: Das Selbst steht dabei auf dem Spiel. Die Gewissensfrage ist eine »Sinnfrage«, insofern das Gewissen die Gesamtheit der für wesentlich erachteten Zusammenhänge repräsentiert, die das Selbst charakterisieren und die von ihm selbst für gewiss gehalten werden, jedenfalls für ausreichend plausibel, um das eigene Leben, die Haltung und das Verhalten darauf zu gründen.
Gewissenlos und »ohne Gewissen« ist derjenige, der über keine Gewissheiten verfügt, oder sie hat, aber sich nicht an sie hält. Gewissenhaft hingegen ist der, der all diese Zusammenhänge berücksichtigt, wenn es um ein Tun oder Lassen geht. Gewissenhaftigkeit ist somit in erster Linie die Aufrichtigkeit gegenüber sichselbst , das Wachen über Abweichungen von all dem, was das Selbst für sich selbst als gewiss erachtet. Diese Selbstehrlichkeit ist nicht ersetzbar durch die Ehrlichkeit gegenüber anderen, die lobenswert ist, im Zweifelsfall aber verzichtbar erscheint, denn in erster Linie lebt das Selbst mit sich selbst: Mit anderen kann es sich, mit sich selbst muss es sich verstehen. Auf sich selbst vertrauen und »zu sich selbst stehen« zu können, ist seine stärkste Basis. Und dies nicht nur für den Umgang mit sich, sondern auch mit anderen, denn nur das Selbst, das die Integrität seiner selbst bewahrt, kann auch anderen gegenüber integer sein. Die Selbstehrlichkeit beruht nicht auf moralischen Gründen: Ihre amoralische, lebenspraktische Bedeutung liegt darin, dass das Selbst in die Irre gehen kann, wenn es sich zu sehr über sich täuscht; es könnte die Orientierung verlieren, würde es sich nicht immer wieder kritisch selbst befragen, um eine realistische Einschätzung seiner selbst zu gewinnen. Jegliche Orientierung ginge verloren, wenn sie nicht aus dem Inneren des Selbst bezogen werden könnte. Typischerweise ist Redlichkeit, in erster Linie gegen sich selbst, »die letzte Tugend«, auf der auch Nietzsche noch beharrt (Nachlassfragment von 1885/86).
Mit der Sorge um sich selbst wird das Gewissen hergestellt, mithilfe des Gewissens wiederum die Ästhetik der Existenz , für die es darauf ankommt, mit Blick auf das Selbst und mit dem Überblick über sein Leben, sein Leben mit anderen und in der Welt danach zu fragen, ob dieses Leben ein schönes, sinnvolles und erfülltes ist oder dazu wird. Gewissenserforschung und Gewissensprüfung sind unverzichtbar für die bewusste Führung des Lebens, um dem Selbst zu ermöglichen, immer aufs Neue sich zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren; eine Instanz der Kohärenz des Selbst und seiner Existenz. Neben dem Blick zurück auf die Gesamtheit gemachter Erfahrungen, individuell wie gesellschaftlich, und den daraus gezogenen Schlüssen gehört dazu vor allem der Blick voraus auf den Horizont des Künftigen, vor allem auf die Grenze des Lebens,
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