Mit sich selbst befreundet sein
auch auf ein mögliches Darüberhinausoder eine potenzielle »Ewige Wiederkehr«. Gewissen heißt vor allem: mit Wissen um die Begrenztheit dieses Lebens , die jede Beliebigkeit der Lebensführung relativiert und auf diesem Weg die Gewissheiten zu finden erlaubt, denen das Leben anvertraut werden kann. Diese Erfahrung forciert wie nichts sonst die Gewissensbildung und Neuorientierung des Lebens: mitten im Leben die Erfahrung vom Sterben und Tod anderer zu machen, durch die der Gedanke an den eigenen Tod unabweisbar wird. Der Verzicht auf die Konfrontation mit dem Tod aber wird mit dem Verlust der Orientierung fürs Leben bezahlt.
Ist es möglich, zu einem gänzlich »reinen« Gewissen zu kommen, soll heißen: zur völligen Übereinstimmung von Verfassung und Verhalten des Selbst mit seinen Gewissheiten? Das ist die unwahrscheinliche Ausnahme, die Regel ist ihre »Verfehlung«, und dies scheint seit der Erfindung des Gewissens so zu sein, der griechische Begriff der hamartía (Verfehlung) steht dafür. Wenn aber die Folgen der Verfehlung für das Selbst wie auch für andere problematisch oder gar verhängnisvoll sind, wenn das Selbst sich als Urheber, zumindest als Veranlasser dafür erkennt, dann kann von »Schuld« die Rede sein. Sie kann auf der Meta-Ebene des Denkens zu einer »Sinnesänderung« führen, griechisch metánoia , einer Reue und Buße, moralisch neutraler eine Neuorientierung des Selbst und seines Lebens. Die grundsätzliche Bereitschaft zur Schuldübernahme mündet in die konkrete Konzeption einer zugehörigen Konsequenz. Unabhängig von anderen setzt das Selbst für sich die Bedingungen fest, die die jeweilige Schwere der Schuld mit einem Gegengewicht aufwiegen können. Diese Selbstvergebung und Selbstverzeihung sich zu verweigern, wäre eine ebensolche Gnadenlosigkeit wie die Gewissenlosigkeit einer Nichtübernahme von Schuld. In mancherlei Hinsicht geht es also darum, »sich ein Gewissen zu machen«. Allerdings bedarf das Selbst dafür der Muße, die die Selbstbesinnung ermöglicht. Misslich, dass es daran gerade in moderner Zeit zu mangeln scheint, während Langeweile das Leben zu dominieren beginnt.
Kunst der Muße: Sich selbst keine Langeweile machen?
Zu den Schattenseiten des Lebens in der Moderne zählt dieses beim ersten Hinsehen harmlos erscheinende Phänomen. Vielleicht ist die Langeweile keine Erfindung der Moderne, aber in ihr grassiert sie. Die Sache und das Wort gab es längst, aber in der Moderne wird die Langeweile zum Begriff. Es handelt sich keineswegs um ein »geschichtsübergreifendes Phänomen«, das alle Menschen zu allen Zeiten gleichermaßen betreffen würde, aber der »Mittagsdämon«, als der die lähmende Langeweile einst in den Schriften des Mönchtums bezeichnet wurde, sucht viele Menschen in der Moderne auch morgens und abends heim und wird zum Problem der Existenz schlechthin. Die Langeweile kann jeden einholen, jederzeit, beim Warten an der Bushaltestelle, beim Alleinsein zu Hause, in der Schule, mitten im Konzert, am Arbeitsplatz, beim Freizeitvergnügen; manche streckt sie sogar nieder, wenn sie miteinander im Bett liegen. Ein Film vertreibt für zwei, drei Stunden die Zeit, aber was dann? Das Ausmaß, das die Event-Kultur angenommen hat, vermittelt einen zuverlässigen Eindruck davon, wie gefürchtet die Langeweile sein muss. Fatalerweise wird die Langeweile umso gravierender, je intensiver die Erlebnisse sind, die sie töten sollen: Rache des Lebens, das sich weigert, ausschließlich zu dem angenehmen, lustvollen, kompakt intensiven Block zu werden, den moderne Menschen gerne als »das Leben« hätten. Die Langeweile gerät zum Sabotageakt des Lebens am Versuch zu seiner Reduktion auf die reine Lust.
Im 17. Jahrhundert wurde l’ennui , die Langeweile, in den posthum erschienenen Pensées von Blaise Pascal noch auf das Leben der aristokratischen Müßiggänger bezogen, denen das Privileg dieser Erfahrung vorbehalten war. In moderner demokratischer Zeit aber wird ein Massenphänomen daraus, ein unangenehmer Preis für wachsende Annehmlichkeiten des Lebens. Langeweile wird zur charakteristischen Erfahrung einer Gesellschaft, in derfür das Lebensnotwendige gesorgt ist, sodass die existenzielle Spannung abflaut. In ihr kommt die Nacktheit des Daseins zum Vorschein, die bloße Tatsächlichkeit des Lebens, die als leer und öde erfahren wird. Für viele gewinnt sie eine geradezu metaphysische Dimension und wird zur Empfindung der Nichtigkeit des Daseins und der
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