Mit sich selbst befreundet sein
gewinnt; und je reicher seine Erfahrung ist, desto feiner ausgearbeitet ist das Gespür. Die Erfahrung muss nicht etwa nur passiv erwartet, sondern kann auch aktiv gesucht werden, um aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu blicken, in den verschiedensten Situationen zu leben und den Horizont denkbarer und möglicher Erfahrungen zu erkunden. Selbst wenn eine Dummheit gemacht wird, und sogar dann, wenn es sich um eine schlechte oder gar schlimme Erfahrung handelt, ist letztlich das Gespür damit zu bestücken, das dem weiteren Umgang des Selbst mit sich und anderen, mit Dingen und Situationen zugute kommt.
Der Prozess wird intensiviert durch die Besinnung , die auf die Erfahrung folgt und sie »konsolidiert«, nämlich durch die Bereitschaft, die Erfahrung aufmerksam wahrzunehmen, sie zu überdenken, zu deuten und zu interpretieren und sie auf diese Weise sich anzueignen. Sinnliche Aufmerksamkeit ist die Grundlage für die Besinnung: Über alle Sinne werden dabei Spuren aufgenommen: sensorische Informationen der »äußeren Sinne«, die das erfassen, was am Körper und in seinem Umfeld von Bedeutung sein kann; auch das, was in den Augen eines anderen »schimmert«; auch das, was in seiner Stimme »mitschwingt« und das Gesagte umspielt, die »Prosodie«; auch die Mimik und Gestik, und schließlich das »Zusammenstimmen« aller dieser Informationen, oder aber, dass etwas »nicht stimmt« im Vergleich zumGewöhnlichen und Bekannten oder zum Gewünschten und Vorgestellten. Ferner somatosensorische Informationen des »inneren Sinns« für all das, was im Körper geschieht und wie er auf Äußeres reagiert, und sensomotorische Informationen eines eigenen Sinns für die Bewegungen des Körpers in Relation zu Bewegungen in seinem Umfeld.
Sodann meint Besinnung die Frage nach einem umfassenderen Sinn , das heißt nach strukturellen Zusammenhängen sämtlicher Spuren und Informationen. Insbesondere fragt sie danach, welche Konsequenzen sich nun ergeben und welche Schlüsse zu ziehen sind, um das Gespür dort zu korrigieren, wo es sich getäuscht hat, und dort zu bestärken, wo es sich als verlässlich erwiesen hat. Dies ist die Ebene der Theoriebildung , mit der das Selbst Distanz zu gewinnen und einen Blick von außen auf das Geschehene zu werfen versucht. Erfahrungen und die Schlüsse, die daraus gezogen werden, werden daraufhin erst abgelagert im Gespür, sodass etwa schmerzliche Erfahrungen in vergleichbaren Situationen das Selbst künftig zurückzucken lassen, Erfahrungen der überschwänglichen Freude es nicht mehr zu allzu großem Leichtsinn verführen. Nur wenn beides zusammentrifft, der Reichtum gemachter Erfahrungen und die Bereitschaft zur Besinnung, lassen sich die unterschiedlichsten Aspekte einer Sache, Situation oder Person erfassen, besondere Details ebenso wie allgemeine Strukturen, deren Kenntnisse das Selbst mit feinem Gespür ausstatten. Sinnlos erscheint angesichts dessen, »immer nur nach vorne zu blicken« und nie zur Besinnung zu kommen. Umgekehrt kann selbst ein sicheres Gespür nicht gänzlich davor bewahren, von aller gemachten und bedachten Erfahrung auch in die Irre geführt zu werden: Das Gespür bleibt subjektiv bestimmt, es ist eine menschliche und keine maschinelle Angelegenheit.
Aus demselben Grund bietet das Gespür jedoch Gewähr dafür, dass all das, was in einer Situation von Bedeutung ist, im Moment der Wahl präsent sein kann. Es kann die lebendigenZusammenhänge und vielfältigen Wechselwirkungen erspüren, die einer theoretischen Analyse und maschinellen Messung leicht entgehen. Es vermag die gesamten Erkenntnisfähigkeiten des Subjekts zu nutzen, auch die nicht-kognitiven und nicht-diskursiven: Das Gespür spürt grundsätzlich mehr, als das Wissen wissen kann. Es entsteht über den doppelten Weg der Bewusstheit und des Gefühls und bleibt weder dem einen noch dem anderen allein verpflichtet. Es ist in der Lage, eine Atmosphäre zu erfassen , die so wenig fassbar ist, wie sie für den Umgang zwischen Menschen oft entscheidend ist. Und es legt das eine Wort, den einen Blick, die eine Geste nahe, die geeignet sein können, eine Atmosphäre zu schaffen . Denn darin liegt eine bedeutende Macht jedes Einzelnen: auf die »herrschende Atmosphäre« Einfluss zu nehmen, die einen Menschen, seine Sinne, seinen Mund verschließt oder aber öffnet. Dem Gespür eignet ein Sensorium für die feinen »Schwingungen« zwischen Menschen, die offenkundig nicht nur im Nahbereich, sondern auch über
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