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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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nicht folgten, sollten vom »schlechten Gewissen« geplagt sein, soll heißen: Die mangelnde Übereinstimmung mit vorgegebenen Normen des Denkens, Fühlens und Verhaltens sollte ihnen zu schaffen machen. Ein nüchterner Beobachter wie Michel de Montaigne aber war sich im 16. Jahrhundert, als das Gewissen noch für eine gewisse Zeit als gottgegeben, zumindest aber als naturgegeben gelten konnte, völlig klar über dessen Herkunft: »Die Gesetze des Gewissens, von denen wir behaupten, sie entsprängen der Natur, entspringen der Gewohnheit« ( Essais I, 23). Wie jede Bindung an Gott, Natur und Konvention erlebtezuletzt auch das Gewissen im Verlauf der Moderne seine Infragestellung und seinen Prozess der Befreiung: Mit der Gewissensfreiheit wurden die Individuen frei vom Zugriff der äußeren, verinnerlichten religiösen, politischen und familiären Autoritäten, deren moralbeladenen Ratschläge in zunehmendem Maße als lästig und lächerlich empfunden wurden. Stattdessen konnte beansprucht werden, nur noch eigenen Überzeugungen zu folgen, bis die Dynamik der Befreiung erwartungsgemäß auch noch diese Überzeugungen mit sich riss und das Gewissen von Grund auf verschwand.
    Was war das Gewissen? Was fehlt, wenn es kein Gewissen mehr gibt? Seit der Entstehung des Begriffs bezeichnet Gewissen ein Sein, Tun oder Lassen »mit Wissen«: syneídēsis im Griechischen etwa bei Epikur, conscientia im Lateinischen etwa bei Seneca – mit Wissen um sich selbst, um die Gründe für ein Tun oder Lassen, um die möglichen oder wahrscheinlichen Folgen, um das »eigentlich« Richtige, die Werte, die Normen. Sollte sich das Gewissen als unverzichtbar erweisen, wird es aber zu einer Frage der Herstellung oder Wiederherstellung per Autonomie , durch Selbstgesetzgebung, und zwar in Form und Inhalt, um »sich ein Gewissen zu machen«. Ergänzend zur Befreiung lässt sich auf diese Weise der anderen Seite der Gewissensfreiheit, nämlich ihrer Formgebung , Rechnung tragen. Wichtiger als der Streit darüber, ob die Gewissensbildung auf individuelle und säkulare Weise überhaupt möglich ist, dürfte die Bereitschaft dazu sein, es zumindest zu versuchen, denn auf andere und transzendente Instanzen könnte lange und vergeblich zu warten sein, und was dann?
    Vor allem der Inhalt , das Konglomerat der Gewissheiten , die das Gewissen ausmachen, wäre autonom zu erneuern, denn ohne Gewissheit droht die unablässige Zerrissenheit des Selbst in allen Fragen des Umgangs mit sich selbst, mit anderen und der Welt. Weiterhin geht in das Gewissen ein, was andere, »die Gesellschaft«, »die Kultur« für gewiss halten, gefiltert jedoch durchdas, was vom Individuum bewusst anerkannt wird und womit es selbst aufgrund eigener Besinnung sein Gewissen ausstatten möchte. Das Gewissen beruht auf einer Selbst-Vergewisserung, einer Klärung dessen, was das Selbst für sich als gewiss gelten lassen kann, eng verbunden mit einer Auffassung davon, was »Selbst« ist und was nicht. Zwangsläufig geht das Gewissen mit der Festigung des Selbst zu einer Integrität einher und wird konstituiert von den Erfahrungen, aus denen das Selbst lernen will, von dem Schönen, an dem es sein Leben orientieren möchte, von den Ideen, die nicht »verraten« werden sollen, von der Disposition der Werte, deren primärer Sinn nicht sein kann, andere, sondern sich selbst daran zu messen. Die Technik, derer das Selbst sich bedienen kann, um Gewissheit für sich zu finden, ist das Gespräch mit sich und anderen, wirklich oder virtuell; die Meditation und Reflexion von Texten, die für grundlegend gehalten werden, religiös oder säkular. Nur so lässt sich auch die Entscheidung im Gewissenskonflikt zwischen gleich wertvoll erscheinenden Werten vorbereiten. Entscheidend aber ist, nicht allzu frühzeitig an einer Gewissheit festzuhalten und das Gewissen nicht als völlig statisch zu verstehen, um es mit Gründen, mit Erfahrung und Besinnung immer neu befragen und überprüfen zu können.
    Die Form des Gewissens aber wird wesentlich vom vorgestellten Blick von außen geprägt, den das Selbst einübt, um sich und sein Leben, das eigene Tun und Lassen beobachten zu können. Lange Zeit in der christlichen Kultur erschien dieser äußere Blick heteronom , von außen bestimmt, als außermenschliche Instanz, versinnbildlicht durch das Auge Gottes, das ohne Unterlass auf dem Selbst ruhte. Da der Blick unverzichtbar ist, wäre er autonom wieder herzustellen, schon aus reiner Selbstsorge, um über

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