Mit sich selbst befreundet sein
bei der das Selbst von einem Punkt »außer der Welt« auf sein gelebtes Leben zurückblickt, während es zu neuen Ufern aufbricht. Die frische Brise, das rhythmische Schaukeln, das gleichmäßige Dahingleiten, das Rauschen der Wellen, die der Schiffskörper selbst erzeugt oder die gegen den Bug schlagen, die Ruhe, die über der weiten Fläche liegt, der unbestimmte eigene Ort, der immer derselbe zu sein scheint und doch stets ein anderer ist: Diese Situation ist dem distanzierten Blick auf sich selbst und die Welt förderlich, auf all die Begrenztheit, die zurückgeblieben ist und sich dort am Ufer, am Festland, das hinter dem Dunst verschwindet, aufgereiht findet. Dort lebt jedes Selbst Tag für Tag an seinem genau umgrenzten Ort, hier aber herrschen Weite und Offenheit, und nur für einen Moment gilt ein Gedanke jenerAbgründigkeit, die sich auftun würde, käme es zum Schiffbruch: Die »Zurückgebliebenen« könnten dann die interessierten Zuschauer sein.
Der Blick von außen auf sich selbst, auf den so viel ankommt, der sonst jedoch abstrakt bleibt, wird hier konkret erfahrbar, wenn die Muße eine Chance erhält. So lässt sich dem Urlaub etwas abgewinnen, wenn er sich schon nicht mehr vermeiden lässt. Denn eigentlich ist »Urlaub« eine merkwürdige Anomalie des Lebens in der Moderne. Die Merkwürdigkeit träte deutlich hervor, würde man sich einen Sioux-Indianer vorstellen, der während der Jagd plötzlich auf die Uhr sehen, Pfeil und Bogen beiseite legen und verkünden würde, seine Arbeitszeit sei nun um, er werde jetzt mal »ein paar Tage ausspannen«. Da der industrielle Verschleiß an Arbeitskraft eine regelmäßige Erholung erzwingt, ist in moderner Zeit der Urlaub jedoch zum Standard geworden. Seine machtgeschichtliche Herkunft kann er dennoch nicht verleugnen: Die Erlaubnis , sich vom Dienst zu entfernen, gab ihm (im Deutschen) seinen Namen; »Urlaub« ist die Erlaubnis einer dazu befugten Autorität, die Aktivität zu unterbrechen und dem Nichtstun zu frönen. Was sich daraus entwickelt hat, ist die Möglichkeit, für begrenzte Zeit aus dem modernen Leben »auszutreten«, zuweilen auch auszutreten aus jeglicher Kultur; anders sind jedenfalls diverse Erscheinungsformen des Urlaubs nicht zu erklären. Urlaub ist die Auszeit in der modernen Welt des Aktivismus, die dem Passivismus allenfalls Reservate zugesteht. Politisch, kulturhistorisch ist darin der Versuch zu sehen, die Muße in eine abgelegene Ecke des Jahres zu drängen, um den großen Rest der Zeit der Unmuße opfern zu können.
Das betrifft die Form , dem Inhalt nach aber ist Urlaub die Einlösung des Traums vom Glück in der Moderne: die Mühsal des Lebens einmal abzuschütteln und »das größte Glück der größten Zahl«, wie die Utilitaristen dies nannten, zumindest zeitweilig zu realisieren; ein Vorschein des künftigen Reiches der Verstetigung und Universalisierung des modernen Glücks. Jetzt endlich ist essoweit, jetzt im Urlaub! Wie schade, dass es ausgerechnet jetzt für viele ganz anders kommt: Mit dem Ortswechsel bricht das haltende Umfeld weg, das Nichts ist zu erfahren anstelle von Vertrautheit und Geborgenheit. Polarisierung bricht auf zwischen zweien, die sonst keine Zeit dafür haben. Die gewohnte Anspannung bricht plötzlich ab, anstelle des Lärms muss das Selbst sich der Stille erwehren. Blauer Himmel, weißer Sand, blaugrünes Wasser Tag für Tag: Kein Mensch hält es im Paradies lange aus. Der Muße entwöhnt, wird doch nur wieder Langeweile und Aktivismus daraus; dankbar werden daher Aktivurlaub, Animation, Reanimation gebucht, all inclusive , außer irgendwelcher Reflexion. Wichtig wäre, diese Probleme vorweg zu kennen, um nicht von ihnen überwältigt zu werden; zu vermeiden sind sie nicht. Selbst hoch oben auf dem Berg, wo in absoluter Ruhe der kühle Wind über die Wangen streicht, klingelt nun, wie zu erwarten war, irgendein Handy: Die Moderne bietet eben noch ganz andere Herausforderungen für eine philosophische Haltung als die Antike. Das ultimative Problem aber steht noch bevor: Irgendwann kommt der Abstieg vom Berg. Dann beginnen unweigerlich wieder die Mühen der Ebene. Die Lebenskunst besteht, wenigstens in der Vorstellung, im Hin- und Hergehen dazwischen: Immer ein wenig Berg im Alltag, um nicht in Enge und Ängsten unterzugehen.
Von der Kunst, heiter und gelassen zu leben
Aber dem Lebenskünstler fällt ja ohnehin alles von selbst zu… Wie kommt es zu diesem Eindruck? Manches scheint ihm leicht zu
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