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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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nimmt sich Zeit, um nachzudenken und vorauszudenken. Die Kultivierung und Umwandlung der Langeweile in Muße ist Reflexion, Meditation und Exerzitium zugleich; aber nicht »ich« denke nach, sondern das Denken verselbstständigt sich und denkt, was es will, wild queerbeet und manchmal konzentriert, allerlei »Sinnloses«, und manches davon »macht Sinn«. Der Sinn, jeder Sinn, füllt die Leere der Langeweile. So werden die Zeiten der Muße zu Zeiten des Nachdenkens über den Sinn der Erfahrungen des Tages wie auch »den Sinn« weit darüber hinaus. Es sind die Zeiten der Hermeneutik der Existenz als der Kunst, das Leben, die Dinge und Ereignisse, sich selbst und andere zu deuten und zu interpretieren, um »Sinn zu finden«. Neben dem reflexiven Sinn, der nur durch Nachdenklichkeit zu erschließen ist, bietet die Muße den Vorteil, zugleich dem unmittelbaren Sinn der Sinnlichkeit frönen zu können: So lässt sich das Leben doppelt genießen, wenigstens für diesen Moment.
    Sinnvollerweise geht eine Kultur der Anstrengung aller Kunst der Muße voraus, denn ohne Anstrengung ist die Muße nichts wert. Nicht dass sie ohne Anstrengung verwerflich wäre – sie stellt sich nur einfach nicht ein: Das ist das Problem all derer, die ihr Leben ohne alle Anstrengung nur noch auf Muße abzustellengedenken. Zum Problem wird jedoch ebenso die Kultur der Anstrengung ohne alle Muße , ohne Vorbereitung eines Vorgehens auf überlegte Weise, ohne Regeneration und Reflexion. Die Muße ist, ergänzend zum tätigen Leben, die geistige Lebensform, in der sich das Denken und schließlich ein anderes Denken entfalten kann, nicht zielorientiert, nicht »nützlich«, gerade dasjenige Denken, das als unerschöpfliche Ressource des Überdenkens, Nachdenkens, Andersdenkens, Neudenkens den Raum von Kunst und Kultur von Grund auf prägt. Im Raum der Muße lässt sich den unterschiedlichen Amplituden von Gedanken Rechnung tragen, vor allem den langwelligen, deren Reichweite über den Moment weit hinausweist. Die Meditation in aller Muße drängt zurück, was dringlich erscheint, und weitet unwillkürlich den Blick, nicht nur von heute auf morgen, sondern auf lange Zeit. Das Recht auf Muße in Anspruch zu nehmen wird zur Pflicht, wenn es darum geht, sich um eine bewusste Lebensführung zu bemühen. Darauf zu verzichten, könnte bitter zu bereuen sein. Besser, die Muße wird noch etwas ausgedehnt.
Urlaub, endlich!
    Wie anders die Welt plötzlich aussieht! Eine kleine Reise, und schon ist von oben, vom Berg herab, zu beobachten, wie eine Wolke heranweht, von Schleiern umwirbelt, die in alle Richtungen fliegen. Durch die Lücken im Nebel hindurch geht der Blick in die Tiefe: Stoisch ruhig, spiegelglatt liegt der See, gesäumt von Ansammlungen von Klötzchen, Orten, verbunden durch schmale Bänder, auf denen in der Dunkelheit helle Punkte entlanghuschen, Autos. Jetzt wird nachvollziehbar, was der Blick von oben, der einst nur eine Frage der Vorstellung war, für Philosophen wie Platon und Marc Aurel bedeuten konnte: Distanz zu gewinnen und Dinge und Verhältnisse in ihrer »wahren« Relation zu sehen. Die gewöhnliche Enge des Alltags lässt sich sprengen, um eine ungewöhnliche Weite zu erfahren, über dieWirklichkeit hinaus Möglichkeiten zu sehen und, ganz im Sinne der Romantik, das depotenzierte Leben wieder zu potenzieren. Es genügt, in die Berge zu reisen, um wenigstens für einen Moment ganz »über den Dingen zu stehen«, auch über manchem Ärger, und erhaben von oben auf das Gezänk herab zu blicken, wie einst schon Nietzsche: »6000 Fuß über Bayreuth« ( Ecce homo , »Warum ich so weise bin«). Der Blick von oben zeigt viel Wasserdampf, oder poetischer: Wolken und ihre stets veränderlichen Formationen. Zu hören ist das vielstimmige Bimmeln von Kuhglocken.
    Eine stets wiederkehrende Möglichkeit zur Einübung in den Blick von oben, von außen, von ferne auf die Dinge und Verhältnisse, jedoch auch auf sich selbst bietet der »Urlaub«: Ein Teil des Selbst bleibt zurück im gewohnten, alltäglichen Leben und lässt sich nun wie von außen betrachten. Wie oben auf dem Berg, so wird auch unten auf dem See bei einer Fahrt mit dem Schiff dieser Blick zur Erfahrung; selbst auf dem Wasser wird auf erstaunliche Weise ein Blick von oben daraus. Eine Schiffsreise, die noch keine Urlaubsreise war, geriet für Johann Gottfried Herder ( Journal meiner Reise im Jahr 1769) auf dem Weg von Riga nach Paris zur Metapher für die Reise durch die Existenz,

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