Mit sich selbst befreundet sein
Informationen, nichtssagenden Worten, überflüssigen Eindrücken? Die leere Zeit, die die Langeweile bereithält, die Leere im Selbst wird zum Gegenpol der unerwünschten Fülle, um in ihr eine andere Fülle, eine Ausgefülltheit und Erfüllung wieder zu finden. Die Langeweile muss nur ausgehalten werden, um sie produktiv zu wenden und sie sogar zu genießen, statt sich mit medial und konsumtiv angebotenen Techniken der Zerstreuung noch mehr zu langweilen. Das ist kein Plädoyer gegen Zerstreuung, lediglich für ihre Mäßigung und Begrenzung: begrenzte Zerstreuung als pragmatischer Kompromiss im Umgang mit der Langeweile, um das Leiden an ihr zu lindern. Es ist klug, der Zerstreuung Grenzen zu ziehen, denn ihre Möglichkeiten selbst sind begrenzt: Werden ihre Ressourcen vorzeitig vergeudet, fällt sie selbst der Langeweile anheim.
Ebenso kann die existenzielle Langeweile, statt sie abzuweisen, aufgenommen werden: Das Selbst kann sich auf den Gedanken einlassen, dass das Dasein im Grunde nichtig, nackt und leer ist. Gelassen kann es ertragen, dass nichts über seine grandiose, erbärmliche Nichtigkeit hinwegtröstet; dass es wohl kein zwingendes metaphysisches Argument für, allerdings auch nicht gegen einen Sinn des Daseins gibt. Warum aber sollte die mutmaßliche Nichtigkeit zu Trübsinn und Verzweiflung führen? Wenn »der Mensch« ihr ausgeliefert ist, steht dies lediglich in schmerzlichem Widerspruch zu seinen stolzen Ansprüchen. Die Nichtigkeit des Daseins kann nur denjenigen erschrecken, der sichallzu anspruchsvolle Vorstellungen von dessen Sinn gemacht hat. Für eine Stillstellung des Lebens, als die die Langeweile gerne in Erscheinung tritt, ist dies kein zureichender Grund, erst recht keiner dafür, aus freien Stücken aus dem Leben zu scheiden, nur um die quälend stehende Zeit, diesen schleichenden Tod nicht länger ertragen zu müssen. Nicht dass dies keine Option wäre, aber der Entschluss dazu könnte auf einer perspektivischen Täuschung beruhen, und es wäre schade, auf so unzureichender Grundlage so weit reichende Konsequenzen zu ziehen.
Gewöhnlich handelt es sich bei der Langeweile um eine ungewollte , die das Selbst überkommt. Daraus eine gewollte zu machen heißt, die lange Weile der Muße wieder zu gewinnen: lange verweilen zu können an einem Ort, bei einem Menschen, einer Sache, einem Gedanken – auch bei einem Nichts. Langeweile ist nicht identisch mit Muße, aber sie ist ihr benachbart: Muße, das ist die gehegte und gepflegte Langeweile, die willkommen geheißen und nicht etwa ausgeschlossen wird. Das Selbst muss die Langeweile aussitzen können, bis sie sich von selbst in den Zustand der Muße verwandelt; etwas anderes, als darauf zu hoffen, bleibt ihm ohnehin kaum übrig. Die Muße will erworben sein, nur durch die Ödnis der Langeweile hindurch führt der Weg zu ihr. Unweigerlich führt er zum otium der antiken Kultur zurück, für die jede Aktivität als eine Negation der Passivität, als negotium im Unterschied zum otium , der Passivität der Muße, galt. Die Kultur der Moderne hingegen legitimiert allein die Aktivität, deren Negation verwerflich ist; sie nobilitiert den Aktivismus eines Handelns um des Handelns willen. Schon um in den Besitz einer anderen Option zu kommen, erscheint es sinnvoll, die Langeweile aushalten zu lernen, sich versuchsweise auf den Passivismus einzulassen, und sei es nur für eine Stunde oder Viertelstunde jeden Tag; nicht um den Aktivismus abzulösen, sondern um ihn auszubalancieren.
Wenigstens spätabends also noch sich zurückzulehnen, die Füße hochzulegen, die Zeitung flüchtig durchzublättern, diemorgen schon von gestern sein wird, und die Gedanken und Gefühle schweifen zu lassen. Nur für sich und, in dieser Zeit, nicht für andere da zu sein: Das ist die Zeit einer selbst gewählten blauen Stunde , Zeit der Selbstaufmerksamkeit und Selbstliebe, in der die Ressourcen für die Zuwendung zu anderen erst gewonnen werden; Zeit, um die verschiedensten Stimmen in sich zu hören und sie diskurrieren zu lassen, bis sie sich von selbst wieder zur inneren Gesellschaft organisieren. Es ist die leere Zeit, in der das Selbst »sich wiederfindet«, das heißt seine Zusammenfügung, seine Kohärenz , diese körperlich-seelisch-geistige Integrität reflektiert und reorganisiert. Eindrücke sortieren sich, finden ihren Platz im Selbst oder verfliegen wieder. Das Selbst wird zum Betrachter der eigenen Existenz und des Umfelds, des Lebens überhaupt, und
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