Mit sich selbst befreundet sein
gesamten Welt. So bedrohlich, ja tödlich kann die Langeweile sein, dass das bloße Handeln um seiner selbst willen schon zum Akt des Lebens wird. Alles ertragen Menschen, nur nicht ihre Nichtexistenz schon zu Lebzeiten; alles, auch Übles, tun sie, um sich und anderen ihre Existenz spürbar zu machen. Langeweile entpuppt sich daher als ebenso mächtiger Beweggrund fürs Handeln wie Liebe, Ehrgeiz oder Streben nach Macht. Tragisch ist der Versuch, sie durch Aktivismus zu überwinden, der die Dynamik der Moderne und damit die Langeweile selbst noch befördert. Den Verdacht, die ganze moderne Gesellschaft sei nichts anderes als der Versuch, »sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben«, hegte Georg Büchner, Dramatiker der Langeweile, bereits 1836 in einem Brief.
Um eine Antwort auf sie zu finden, ist es hilfreich, sich das Phänomen genauer anzusehen. Denn im Kontrast zum Eindruck der Einförmigkeit, den sie vermittelt, kann die Langeweile verschiedene Formen annehmen: gelegentlich auftretende oder das ganze Leben umfassende, lässliche oder unerlässliche, gewollte oder ungewollte. Ihre harmlose, gelegentliche, okkasionelle Form geht aus einer momentanen Situation und Konstellation hervor, Zeichen einer Zeit, in der nichts geschieht, Signum einer Sache, derer das Selbst überdrüssig geworden ist, da jede Anregung und Erregung, wenn sie andauert, sich abnutzt. Die Zeit zerdehnt sich ins Unendliche und will nicht vergehen; jetzt erst wird sie als Zeit überhaupt wahrgenommen – und ebenso rasch vergessen, sobald die Kurzweil einer spannenden Tätigkeit wieder die Oberhand gewinnt. Als ungleich größeres Problem erscheint stattdessen die existenzielle Form der Langeweile, die das ganze Leben umfasst und die Existenz von Grund auf in Frage stellt:Langweilig, morgens aufzustehen, langweilig zu arbeiten oder nicht zu arbeiten, langweilig, ins Bett zu gehen, langweilig, dies alles immer wieder von vorne zu erleben; nichts mehr ist spannend, nie wird es etwas Neues, nie Überraschungen geben. Das ist das Nichts, das diejenigen empfinden, die alles schon erlebt haben; die eigentlich moderne Langeweile, die vor allem jungen Menschen den Gedanken an Selbsttötung nahe legt: keinen Grund fürs Leben zu finden, keinen, was noch schlimmer ist, dagegen; sich schlaff zu fühlen, zu nichts sich aufraffen zu können, absolute Gleichgültigkeit, tödlich ohne wirklichen Tod.
Diese lässliche Langeweile, die verzichtbar wäre, ist jedoch zu unterscheiden von einer unerlässlichen , auf die nicht verzichtet werden kann. Mit welcher Form das Selbst jeweils zu tun hat, ist eine Frage seiner Haltung, diese wiederum eine Frage seiner Wahl. Lässlich ist die Langeweile, die nur mit größter Angespanntheit erduldet wird, um sie bei erstbester Gelegenheit wieder zu eliminieren. Unerlässlich ist die Langeweile, die das Selbst bewusst gewähren lässt, um eine Quelle der Inspiration daraus zu beziehen. Denn unmittelbar mag die Langeweile unfruchtbar und unkreativ sein, mittelbar jedoch wird sie zum Hort der Fruchtbarkeit und Kreativität. Gerade weil sie eine Leere ist, weil sie ein Vakuum bildet, kann vieles in sie eindringen und sie zieht es auf sich: ungedachte Gedanken, unvorhergesehene Begegnungen, überraschende Erfahrungen, neue Vorstellungen, kühne Ideen, Verknüpfungen, Zusammenhänge, die plötzlich »Sinn machen«. So kommt es, dass all das, was lange und langsam einströmt in die Leere, unvermutet aus ihr wieder hervorquillt. Voraussetzung dafür ist lediglich, die Leere wirklich leer zu halten, sie nicht voreilig und vorzeitig zu füllen mit schon Bekanntem, mit Ablenkung und mit all den Angeboten, die die Langeweiletötungsindustrie bereithält und zu denen bereitwillig gegriffen wird, aus Angst vor der Leere, jenem horror vacui , der die Langeweile als Affekt begleitet.
Grundsätzlich stehen diese beiden Optionen für den Umgangmit ihr zur Verfügung: Negation und Bekämpfung ebenso wie Affirmation und Anerkennung. Während Erstere darauf zielt, sie auszulöschen (und in Gefahr steht, sie damit erst recht zu bestärken), ist Letztere in der Lage, ihr Sinn und Bedeutung zuzugestehen und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn die Erfahrung der Langeweile schon nicht mehr zu umgehen ist, so lässt sie sich doch umdeuten und umwenden, beginnend bei der okkasionellen Langeweile: Bedarf das Selbst nicht gerade in moderner Zeit einer Pflege der Leere, um nicht überfüllt, ja sogar »zugemüllt« zu werden von
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