Mit sich selbst befreundet sein
überblickt, zeitlich, räumlich, sachlich, und vieles gelten lassen kann, auch Abgründiges und Widersprüchliches, im vollen Bewusstsein der Winzigkeit des jeweils Wirklichen im unabsehbaren Meer des Möglichen.
Heiterkeit ist das Signum eines »schönen Geistes«, ein Leben in der Balance, ein Leben im Gleichmaß, ein »symmetrisches Leben«, wie Demokrit, der Begründer des philosophischen Begriffs der Heiterkeit ( euthymía ) im 5./4. Jahrhundert v. Chr. dies nannte. Gemeint ist zum einen die Ausgewogenheit im Denken, das den äußeren Bedingungen von Leben und Welt Rechnung trägt, zum anderen die Ausgewogenheit im Fühlen, das die innere Balance im Empfinden der Zustände des Subjekts selbst versucht; schließlich aber die Ausgewogenheit zwischen Denken und Fühlen. Neurobiologisch kann dies als gleichmäßiger Austausch zwischen unterschiedlichen Hirnregionen verstanden werden, der für ein »ausgeglichenes Selbst« sorgt, ein Prozess der homöodynamischen Regulation. Die Symmetrie, die Balance, die Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit lässt sich jedoch in aller Regel nicht synchron , nicht im Moment, sondern eher diachron , durch die Zeit hindurch erreichen. Sehr wohl kennt sie Ausschläge der Waage nach der einen oder anderen Seite hin, die jedoch mit der Zeit gegeneinander aufgewogen werden, sodass die Polarität des Lebens zu ihrem Recht kommt. Wer aber einen Pol abstreicht, darf sich nicht wundern, wenn er den anderen Pol nicht mehr erfährt: Woher könnte er beispielsweise überhaupt wissen, was »Wohlsein« ist, wenn er das »Übelsein« nicht mehr kennt? Niemand muss nach üblen Erfahrungen suchen, sie stellen sich erfahrungsgemäß von selbst ein; vorsätzlich auszubalancieren ist hingegen das Zuviel an übler Erfahrung durch das Angenehme, das gesucht wird. Die Heiterkeit als geistige Haltung ist zudem vorbereitet auf den möglichen Umschlag der Dinge in ihr Gegenteil, der bewirkt, dass das Angenehme, dasandauert, in sich ins Unangenehme umschlagen kann. Oft wissen Menschen dann nicht mehr, wie ihnen geschieht, denn »es hat doch eigentlich alles gestimmt«, nur das Leben fordert die Balance ein. Gerade der glückliche Augenblick kann traurig machen, denn das Selbst ahnt, dass er nicht von Dauer ist; daher die Melancholie inmitten des Glücks. Eine schlimme Erfahrung, die andauert, kann ebenso in sich umschlagen in eine freudige; daher die Freude inmitten von Tragik: Das Selbst verliert die Angst vor dem Abgrund, denn es lebt in ihm und kann nicht tiefer fallen; der Schmerz vermittelt ihm eine abgrundtiefe Erfahrung von Selbst und Welt, die es fortan nicht mehr missen will.
Einsicht in diese Zusammenhänge hat die Heiterkeit. Die Grundhaltung, die dem Spiel der Widersprüche Raum gibt, ist die Gelassenheit. Gelassene Heiterkeit ist das Bewusstsein davon, dass in allem, was ist, auch noch anderes möglich ist; dass Höhen und Tiefen sich abwechseln wie Tag und Nacht, wie Ein- und Ausatmen; dass dies der Takt des Lebens ist, das aus der Polarität in allen Dingen seine Spannung bezieht. So kann es zum symmetrischen Leben kommen, dessen Ausdruck Harmonie sein mag, jedoch eine, die voller Spannung ist, bis hin zu einem Oxymoron , das unvereinbare Gegensätze in sich zusammenspannt, in der Poetik und Rhetorik ebenso wie in der Ästhetik der Existenz. Wie jede Kunst, so bezieht auch die Lebenskunst ihre Kreativität und Produktivität aus dem Leben mit Widersprüchen, sehr bewusst eingesetzt von Romantikern wie Novalis. Die Aufhebung dieser Spannung öffnet nur den Raum für Bagatellen, die die Polarität des Lebens wieder herzustellen versuchen, individuell wie auch gesellschaftlich. Heiterkeit und Gelassenheit waren nie Begriffe der Moderne, eine andere Moderne aber wird ohne sie kaum denkbar sein: Nur das symmetrische Leben ermöglicht, Beschleunigung durch Verlangsamung auszutarieren, Unduldsamkeit durch eine neue Geduld, Veränderung durch Beharrung, anonyme Funktionalität durch persönliche Zuwendung. Und wenn das nur eine Illusion sein sollte?
Vom Leben mit und ohne Illusionen. Resignation als Lebensform
Vielleicht empfiehlt es sich, grundsätzlich ein illusionsloses Leben zu führen, ohne jede Illusion über sich selbst, andere, das Leben, die Welt. Vorausgesetzt, dies wäre möglich – denn es fehlt ein verlässlicher Maßstab dafür, was genau Illusion ist und was nicht; ansetzbar ist allenfalls der Maßstab der Plausibilität –, so wäre dies wohl ein Leben in größtmöglicher Klarheit
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