Mit sich selbst befreundet sein
anvertraut werden: Erfahrung erzieht, mehr als irgendetwas sonst. Den Erziehenden steht es umgekehrt gut an, nicht nur zu erziehen, sondern auch sich erziehen zu lassen und den Prozess der Erziehung somit zu einem wechselseitigen zu machen: nicht nur zu lehren, sondern auch selbst von der Lebenskunst der Kinder zu lernen. So wachsen sie selbst noch einmal heran, erschließen sich das Leben und die Welt erneut und lernen vielleicht jetzt erst zu leben: Diese Möglichkeit gehört zum unerhört Schönen des Lebens mit Kindernund ist ein üppiger Ausgleich für zahllose Mühen und Entbehrungen.
Wie jede Lebenskunst beruht auch die kindliche auf einem Erwerb von Können . Jedes noch so unscheinbare Können vermittelt eine Erfahrung von Selbstmächtigkeit und ist die Bedingung dafür, dass Lebensmut und nicht Verzagtheit entsteht. Jedes Spiel wird zur Übung, um ein Können fürs Leben zu erwerben; daher ist die Liebe zum Spiel so ausgeprägt beim Kind. Ums Können geht es auf den drei Stufen der Möglichkeit, Wirklichkeit und Gekonntheit: Möglichkeiten überhaupt erst zu erschließen, sie sodann in Wirklichkeit umsetzen zu können, und dies zuletzt sehr gekonnt zu tun, auf jeder Stufe verbunden mit endloser Übung und unverdrossener Anstrengung. Die Übung um des Könnens willen beginnt von klein auf; beispielhaft dafür ist, wie das kleine Wesen angestrengt versucht, den Kopf zu heben und oben zu behalten. Wie es etwas in den Blick nimmt und lange betrachtet. Wie es greift und immer gezielter nach etwas greifen lernt. Wie es Geräusche und Töne sammelt, die mit dem ausströmenden Atem zu erzeugen sind, um mit diesem Material schließlich Sprache nachzuformen. Wie es sich hochstemmt, sitzen lernt, dann zu stehen beginnt, um geradezu ekstatisch die ersten Schritte zu setzen: Der Enthusiasmus, der dabei aus ihm herausbricht, die leuchtenden Augen bei diesem Sieg über die Schwerkraft zeugen vom Hochgefühl einer eigenen Macht, die mit dem Können stets verbunden ist. Was anfänglich bewusst und doch noch nicht selbstreflexiv geschieht, wird im Laufe der Zeit zu einem immer reflektierteren Prozess, der tausendfältig von neuem beginnt, denn so vieles will gekonnt sein: Spielen, Schaukeln, Fahrradfahren, Schwimmen, Schreiben, Rechnen, Freunde gewinnen, Streiten, Versöhnen, Singen, Tanzen… Ganze Kataloge des Könnens für Kinder werden bereits entworfen (Donata Elschenbroich, Weltwissen der Siebenjährigen , 2001), ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Zeiten seiner Selbstverständlichkeit zu Ende gehen.
Das Können des Lebens ist zusammengesetzt aus einer großen Zahl von einzelnem Können . Jedes Einzelkönnen muss erst erlernt und eingeübt werden; das Lachen zum Beispiel: hinreißend, mit welcher Ernsthaftigkeit früh schon dieses »Ziel« verfolgt wird, denn Lachen will gekonnt sein. Es ist zunächst nichts als ein Reflex, ein Zucken der Muskeln, die die Stellung der Mundwinkel regulieren. Das kleine Wesen lernt rasch, welchen Effekt ein solches Zucken in den Gesichtern der Eltern erzeugt, und ahmt selbst nach, was an Muskelarbeit des Lachens in deren Mimik erkennbar ist. So blitzt das Lachen bald in bestimmten Situationen auf und wird schließlich verfügbar. Schon das Wickelkind eignet sich verschiedene Varianten des Lachens an, bis hin zum vollkommen gewollten Lachen, das mit größter Begeisterung eingeübt und abgespult wird. Darauf kommt es fürs Leben an: Lachen zu lernen – im Weinen ist das Kind ein Meister ganz von selbst. In der Fähigkeit aber, beides voll und ganz leben zu können, liegt ein Grund für die Heiterkeit der kindlichen Lebenskunst, denn in beiden Äußerungen kommt die Heiterkeit als Haltung am stärksten zum Ausdruck, als geradezu philosophische Haltung, die die Bedeutung des Lachens wie des Weinens anerkennt, das eine wie das andere geschehen lässt, und damit der Polarität des Lebens Rechnung trägt. Das kindliche Glück ist so am ehesten zu verstehen, denn über das bloße Zufallsglück, auch über das Wohlfühlglück hinaus ist es ein umfassendes Glück der Fülle, das noch Gegensätze und Widersprüche in sich zu integrieren weiß: Glücklichsein und Unglücklichsein, unbändige Freude und Todtraurigkeit, Hellwachheit und Verträumtheit; ein Glück, das sich im Laufe des Erwachsenwerdens zu verlieren scheint und nur mit Mühe wieder zu erlangen ist.
Eine wichtige Rolle beim Übergang zur Selbstsorge kommt dem Erlernen des Könnens im Umgang mit den Dingen der Alltäglichkeit
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