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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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und einzuüben wäre: Aufmerksamkeit zu schenken, sie selbst wiederum geschenkt zu bekommen.
    Vielleicht gründet schon die kindliche Lebenskunst in der Angst . Kinder kennen Ängste nur zu gut: vor dem Alleinsein, vor Geistern und Gespenstern, vor Blitz und Donner, all die altbekannten Ängste, zwischenzeitlich noch um moderne Ängste ergänzt. Nicht zuletzt aufgrund von Ängsten suchen sie nach Berührung , die als Form von Aufmerksamkeit und Trost erfahren wird. Sie suchen nach ihr, wenn sie ihrer bedürfen, und fliehen sie, wenn sie ihnen zu viel wird. Gänzlich zu entbehren ist sie, wie schon die Aufmerksamkeit, nur um den Preis, körperlich und seelisch auszudörren und zu verwelken. Bereits von Geburt an ist sie von solcher Bedeutung, dass Säuglinge mit viel Hautkontakt wacher und physisch aktiver sind und schneller an Gewicht zunehmen. In amerikanischen »Findelhäusern« wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts die schreckliche Erfahrung gemacht, dass ein Mangel an Berührung, der damals aus Gründen der Sterilität und Hygiene (und wohl auch aus Körperfeindlichkeit) für geboten gehalten wurde, für Kleinkinder tödlich sein kann. Dies nicht nur aus psychischen, sondern, wie am Ende des Jahrhunderts zu entdecken war, auch aus somatischen Gründen, denn Berührung, Streicheln, Kuscheln trägt über komplexe biochemische Wirkungsketten maßgeblich zum Aufbau des Immunsystems bei. Psychische und somatische Gründe sind daher hinter der Magie der Berührung zu vermuten, die in der gesamten Kulturgeschichte bekannt ist und noch immer heilsame Wirkungen zeitigt beim Auflegen einer Hand, auch beim »Pusten« zur Heilung einer kleinen Verletzung, wonach Kinder so oft verlangen. Der Berührung mehr Bedeutung zuzumessen, können Erwachsene von Kindern wieder lernen.
    Von selbst suchen Kinder danach, auch ein soziales Können zuerwerben, über die gegebenen familiären Beziehungen hinaus selbst Netze der Beziehungen zu anderen zu knüpfen und zu pflegen, in erster Linie Beziehungen der Freundschaft zu Gleichaltrigen. Ein ganzes Pathos der Freundschaft kann sehr früh entstehen und die gesamte Kindheit prägen. In der Freundschaft wird der Umgang mit anderen aus eigenem Interesse und aufgrund freier Wahl erlernt, mit starker Rückwirkung auf den Umgang mit sich selbst, denn im Umgang mit anderen gestaltet das kleine Selbst sich selbst und wird fähig auch zur Selbstfreundschaft . Zugleich hindert die Freundschaft die natürliche Selbstliebe daran, zum bloßen Narzissmus zu werden. Alle Aspekte und Affekte, das gesamte Spektrum des gegebenen wie des möglichen Selbst kommen dabei zum Vorschein. Mit dem Freund kann vieles besprochen und können die lustvollen wie die schmerzlichen Erfahrungen geteilt werden; er steht nicht unter Erziehungsverdacht: Umso mehr erziehen die kleinen Freunde sich wechselseitig, eine wertvolle Ergänzung und Korrektur der Arbeit der Erziehenden. Von selbst verstehen sie sich auch auf die gelegentlich nötige Polarisierung , die immer wieder das Spannungsfeld erzeugt, in dem sie leben können; jede Auflösung einer Symbiose verweist sie wieder auf sich selbst.
    Wie sehr Kinder selbst Schaffende sind, zeigt sich erst recht in hermeneutischer Hinsicht: Mit dem Können der Deutung und Interpretation gelingt ihnen die Herstellung einer ganzen Welt der Bedeutung, in der sie zu Hause sein können. Das ist der Grund ihrer Begeisterung für Geschichten, die sie vorgelesen bekommen, dann selbst lesen, in Filmen sehen und vielleicht auch selbst erfinden: Geschichten bieten hermeneutischen Stoff; vieles, das das kindliche Denken und Fühlen bewegt, lässt sich in sie hineindeuten und aus ihnen herauslesen. Alles bekommt Sinn und Bedeutung durch Geschichten, durch die sich die Fäden der Vernetzung von allem mit allem spielerisch knüpfen lassen. Exemplarisch sind Zusammenhänge auf diese Weise herzustellen, ist ein Geschehen zu deuten und die Arbeit der Hermeneutik einzuüben.Alle denkbaren und undenkbaren Zusammenhänge schöpfen Kinder in ihrer Phantasie aus, spielen sie durch und erproben sie. Neurobiologisch gesehen steigert dies das synaptische Können, künstlerisch gesehen das kreative Vermögen, eine Ausbildung vor allem des Möglichkeitssinns und eine wirkliche Potenzierung des Lebens. Die Aufgabe der Erziehenden besteht lediglich darin, Material für umfangreiche Möglichkeiten der Deutung bereitzustellen und einem möglichen Einschluss des kleinen Selbst in seine hermeneutische Welt

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