Mit sich selbst befreundet sein
entgegenzuwirken, von dem es sich noch nicht selbst befreien könnte. Dazu dient, sich stetig von der kindlichen Welt der Bedeutung erzählen zu lassen, sie auf diese Weise offen zu halten und selbst an ihrem Reichtum teilzuhaben.
Die hermeneutische Arbeit ist eine Suche nach Antwort auf die Sinnfragen , die Kinder noch stellen, bevor sie später in den Hintergrund gedrängt werden. Sie fragen danach, wie alles zusammenhängt, im Kleinsten wie im Größten, vom Alltäglichen bis ins Metaphysische, um plausible Antworten zu finden, die in ihren Augen etwas erklären und mit deren Hilfe sie sich in der Welt zurechtfinden können. In diesem Sinne philosophieren sie, halten von selbst gerne inne, denken nach, fragen beharrlich nach, argumentieren, hören Argumenten zu, nehmen Perspektivwechsel vor: Was ist das? Wie funktioniert das? Warum ist das so und nicht anders? Was wäre, wenn… Sie wollen wissen, woher sie kommen, wie ein Kind entsteht, wie ihre eigene Geburt verlief, wie sie gehen und sprechen gelernt haben, was ihre ersten Worte und Sätze waren. Und wie ist die Welt zur Welt gekommen? Wie ist sie entstanden? Wie groß ist sie? Wo ist sie zu Ende und was ist darüber hinaus? Und schließlich der Tod: Warum müssen Menschen sterben? Wo ist der Opa, der gestorben ist, jetzt? Gerne und unbefangen sprechen Kinder über den Tod, der so viele Fragen aufwirft, für die es nicht entscheidend ist, dass sie abschließend beantwortet, sondern dass sie gestellt und besprochen werden – schon um zu bemerken, dass es Rätsel im Leben gibt, auch für Erwachsene. Entscheidend fürs Leben ist,den Tod als dessen Grenze zu begreifen, was immer über die Grenze hinaus sein mag. Im Wissen um den Tod wird deutlicher, was Leben ist; dort aber, wo er verdrängt wird, wird auch das Leben aus den Augen verloren.
Eine eigene hermeneutische Leistung der Kinder ist es, das Schöne zu finden, für das es sich zu leben lohnt und in dem der subjektive Sinn des Lebens liegt: Schönes, das als Bejahenswertes verstanden wird und in kleinen wie in großen Dingen zu finden ist, wie etwa Freunde zu haben, spielen zu können, etwas besonders gerne zu mögen, ein Leibgericht, ein Lieblingsspielzeug, einen Lieblingsort, ein bestimmtes Ritual, den Umgang mit bestimmten Menschen. Der Prozess kann forciert werden durch die Frage nach Schönem, die den Kindern von Erziehenden, von diesen bei Gelegenheit aber immer wieder auch sich selbst gestellt wird: »Was ist für dich schön?« Mag die Bestimmung des Schönen auch von all dem beeinflusst sein, was Kinder in der Welt der Erwachsenen vorfinden, so sind sie doch in wachsendem Maße in der Lage, ihre eigene Wertschätzung zu formulieren und zu behaupten. Kinder tun alles dafür, sich ein Leben einzurichten, das in ihren Augen schön und bejahenswert ist, auch unter sehr schwierigen Bedingungen. Im Laufe der Zeit werden sie von selbst damit vertraut, dass nicht immer alles im Leben im subjektiven Sinne »schön« sein kann, schon um der Polarität des Lebens willen nicht.
Heranwachsen: Von den Mühen der »Selbstfindung« in der Moderne
Kinder möchten gerne alles gleichzeitig machen. Kein Problem, sie müssen sich nur zerteilen, ein Kinderspiel: Die Augen, keine Frage, bleiben ganz alleine vor dem Fernseher sitzen, sie sind voll beschäftigt. Die Zunge hängt sich unverzüglich an ein Eis und leckt daran hingebungsvoll, endlich geht es um ihren Willen ganz allein. Der Kopf, aus dem die Augen herausgeschraubtsind, sitzt vor den Rechenaufgaben; das kann er alleine besser, als wenn Augen und Zunge ihn dabei stören. Die Ohren sind gefesselt von einem Hörspiel. Die Füße sind schon unterwegs zum Spielplatz; sie freuen sich darüber, so unbeschwert losmarschieren zu können, während der Hintern noch auf dem Klo sitzt und lediglich die Hände vermisst, die ihn abputzen sollten, jetzt aber gerade mit voller Konzentration den komplizierten Bausatz eines Legomobils zusammenmontieren. Die Zehen befinden sich währenddessen einzeln in den Händen der Eltern, die sie endlich einmal gründlich reinigen können, hinterher allerdings aufpassen müssen, sie nicht in umgekehrter Reihenfolge wieder anzuschrauben. Das größte Glück aber widerfährt dem Mund, der ohne Rücksicht auf andere Teile munter drauflosplappern kann, ohne noch irgendeine lästige Pause machen zu müssen.
»Aber ich«, sagt plötzlich das Kind, das der Zerlegung seiner selbst fasziniert beiwohnt, »wo bin da noch ich?« In der Tat, das ist
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