Mit sich selbst befreundet sein
Lebenskunst davor, das gesamte Leben mit einem einzigen Wohlfühlglück zu verwechseln; sie stellt das Selbst beizeiten darauf ein, dass es noch andere Zeiten geben wird, dass nicht alles jederzeit lustvoll sein kann und völlige physische und psychische Schmerzfreiheit kaum zu erreichen ist. Das Glück allein in der Lust zu suchen, erscheint vielmehr als der sicherste Weg, unglücklich zu werden, denn die Lust dauert nicht; sie ist ein schöner Moment, eine selige Erfahrung, aber sie hält nicht vor, und das gehört zu ihrem Wesen. Schmerzen ausschalten zu wollen, führt nicht nur zum Verlust der Kontrasterfahrung, die die Lust erst fühlbar macht, sondern zum Verlust der Orientierung im Leben – denn der Schmerz ist der Stachel, der zum Nachdenken über das Leben nötigt. Dass das Leben Höhen und Tiefen kennt, weiß auch der moderne Mensch, aber Geltung haben eigentlich nur die Höhen, die Tiefen sind des Teufels. Lassen Ängste und andere Anlässe für Tiefen sich nicht verdrängen, so ist dieser Auffassung zufolge alles dafür zu tun, wieder »aus dem Tief herauszukommen« – wenn nötig, mit Hilfe von Medikamenten, denn fehlendes Glück ist in der Moderne nur als Krankheit denkbar, Diagnose anhedonía , Abwesenheit von Lust. Aber es gibt noch andere, ältere Auffassungen vom Glück.
3. Das Glück der Fülle: Es besteht nicht so sehr darin, dass alles in Erfüllung geht, was wünschbar ist. » Etwas zu wünschen übrig zu haben , um nicht vor lauter Glück unglücklich zu sein. Der Leib will atmen und der Geist streben. Wer alles besäße, wäre über alles enttäuscht und missvergnügt« (Gracián, Handorakel , Aphorimus 200). Vielmehr ist das Glück der Fülle eine Frage der bewusst eingenommenen Haltung, die in Heiterkeit und Gelassenheit zum Ausdruck kommt und zum »guten Geist« wird, vondem die griechische eudaimonía ihren Namen hat. Dieses Glück ist wählbar, nämlich in Gestalt der Lebensform, und erlernbar, mithilfe von Sorge, theoretischer Klärung und praktischer Einübung, wie sich bei Aristoteles lernen lässt. Mit »Fülle« ist gemeint, dass dieses Glück nicht darin aufgeht, nur die Seite des Angenehmen, des Lustvollen und »Positiven« zu repräsentieren. Glück als Fülle des Lebens umfasst auch die Seite des Unangenehmen, Schmerzlichen und »Negativen«. Das erfüllte Leben ist dann die Oszillation zwischen beiden Polen, die gesamte Weite der Erfahrungen überhaupt zwischen Gegensätzen und Widersprüchen, durch die hindurch der profunde Eindruck entsteht, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren. Wodurch sollte dieses Glück noch in Frage gestellt werden? Was zur Fülle des Lebens beiträgt, bestärkt das Glück, geschwächt wird es nur durch die Vereinseitigung der Erfahrung, meist nach der Seite des Angenehmen hin, die am ehesten festzuhalten versucht wird.
Menschen, die verzweifelt danach suchen, was ihnen noch Spaß machen könnte, mögen noch so lange Listen »angenehmer Tätigkeiten« erstellen – um sich zu helfen, bedürften sie eher einer Negativliste »unangenehmer Tätigkeiten«, zu denen sie bereit sein müssten, um Angenehmes überhaupt wieder empfinden zu können. Dass das Glück der Fülle nicht in »Fröhlichkeit« aufgeht, wissen diejenigen am besten, die darauf beharren, sich auch ihre »Leidensfähigkeit« zu bewahren. Dieses Glück ist umfassender und dauerhafter als alles Zufallsglück und Wohlfühlglück; es ist das eigentlich philosophische Glück, nicht abhängig von bloßen Zufällen und momentanen Empfindungen, vielmehr eine immer aufs Neue zu findende Balance in aller Polarität des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, sondern durch das gesamte Leben hindurch: nicht nur Gelingen, auch Misslingen; nicht nur Erfolg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz. Paradoxie dieses Glücks: Es umfasst keineswegs nur das Glücklichsein, sondern ebenso das Unglücklichsein; zu seinerFülle gehört stets das Bewusstsein der Abgründigkeit, ansonsten steht es in der Gefahr bloßer Oberflächlichkeit. Dieses Glück fordert, einverstanden zu sein mit der Tragik, in anderer Sichtweise der Komik, dass der Stein des Lebens nur hinaufgerollt wird, um ihn wieder herunterrollen zu sehen, und dennoch immer wieder von vorne zu beginnen, wie Sisyphos, den man sich, wie Albert Camus meinte, »als einen glücklichen Menschen vorstellen muss« ( Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde , 1942); und auf jedes Wort kommt es hier an: Dass es
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